Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
konnte schrie ich:
Halt sie fest! Sie ist dein Kind!
8
W ahrscheinlich ist jetzt nicht mehr viel zu erwarten.
Die Schriftstellerin wird irgendwo sitzen, Kaffee trinken und warten, bis sie meine Überreste einsammeln kann. Vielleicht ist es richtig so. Vielleicht muss auch ein Bärenleben irgendwann zu Ende gehen. Und vielleicht auf ebendiese Weise.
Ich sterbe nicht wie ein Mensch. Ich tue nicht irgendwann meinen letzten Atemzug – glaube ich jedenfalls. Ich werde vermutlich einfach nur noch meine Einzelteile sein. Nicht besonders dramatisch eigentlich. Ein Glas, das herunterfällt, ist ja auch kein Glas mehr, sondern nur noch Scherben. In einer Sache ähnele ich den Menschen dennoch: Ich habe Spuren hinterlassen, in all jenen Leben, deren Wege ich gekreuzt habe, Erinnerungen, Gefühle, Vertrauen und Trost. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass wir Teddybären eine Sonderstellung unter den Spielzeugen innehaben. Das klingt möglicherweise eingebildet, aber es entbehrt nicht einer gewissen wissenschaftlichen Grundlage. Ich selbst habe diese Forschung vorgenommen und festgestellt, dass Teddys (ich bin ja nicht der Einzige), länger als alle anderen Spielzeuge bei ihrem Besitzer bleiben – wenn man nicht gerade verloren geht, das ist natürlich Pech.
Alice, Lili, Leo, Robert, Friedrich, Marlene, Charlotte, Franziska, Melanie, Julchen, Isabelle, Giulia, Laura, Nina – Ich habe ihnen allen gegeben, was sie von mir verlangten. Ich bin steinalt geworden und habe meinen Zweck erfüllt.
Ist es nicht verrückt? Ich verstehe so gut wie nichts von der Welt, aber doch eine Menge von den Menschen. Ich weiß bis heute nicht, was in ihren Köpfen vor sich geht, aber ich bin ein Kenner der Herzen.
Und mein eigenes Herz? Ich weiß nicht. Alice hat meine Bestimmung festgelegt. Sie hat mir die Liebe mitgegeben. Das habe ich immer gewusst und dementsprechend gehandelt. Doch was soll jetzt daraus werden?
Ich merke, wie ich ganz ruhig werde. Nach so vielen Jahren lässt mein innerer Widerstand nach, und ich bin bereit, mich in mein Schicksal zu fügen.
Still lausche ich auf die Geräusche um mich herum.
Die Neonröhre brummt. Die Fliege hat es aufgegeben, mit dem Kopf durchs Fenster zu wollen, und draußen hat nach dem Gewitter nun der Regen eingesetzt. Ich höre, wie die Tropfen in Böen gegen die Scheibe geschleudert werden. Es ist ein gutes Geräusch, ich mochte den Regen von klein auf.
Wenn ich an mir heruntersehe (was zunehmend schwerer fällt), erkenne ich, dass ich durch viele Hände gegangen bin. Mein Fell ist an vielen Stellen schon abgewetzt, meine Nähte sind morsch, meine Gelenke ein wenig locker, und auch die Beweglichkeit meiner Glieder geht mit Knacken und Knirschen einher. Jemand hat mal gesagt, ich sähe abgeliebt aus. Damals fand ich den Begriff nicht sehr passend. In diesem Wort schwingt etwas Endgültiges mit, es klingt wie fertiggeliebt, so als gäbe es keine Liebe mehr. So etwas über den Träger der Liebe zu sagen ist ein vernichtendes Urteil. So lange es mich gibt, habe ich Liebe zu geben. Ich fand vielmehr, ich sähe geliebt aus. Man sieht mir an, dass ich für viele Menschen ein Begleiter war – durch dick und dünn, durch Dreck und Sand, durchs Leben.
Doch hier und heute ist es also vorbei mit der Liebe. Nun bin ich also doch abgeliebt. So nennt man es wohl, wenn einem Bären die Liebe entfernt wird, weil er in einem Röntgentunnel ausgerechnet dadurch auffällig wird.
Es ist schwierig, sich mit dem Tod abzufinden, auch als Bär.
EIN ENGEL
D as blasse Novemberlicht fiel durch die hohen Fenster und erhellte den Raum spärlich. Von meinem Platz neben der Porzellanbüste von Puccini sah ich direkt auf die vielen gerahmten Fotografien, die an der Wand gegenüber hingen. In diesem Licht konnte man nicht so gut erkennen, was darauf war, aber das musste ich auch nicht. Ich kannte diese Bilder auswendig, hatte in den vergangenen Jahren jedes kleinste Detail tausendmal betrachtet, und es war schon lange her, dass ich irgendetwas Neues darauf entdeckt hatte.
Voluminös und beinahe bildfüllend bildete Madame Federspiel den Mittelpunkt aller Aufnahmen. Es gab ein paar alte Schwarz-Weiß-Bilder, auf denen noch zwei oder drei andere Leute Platz gefunden hatten, spätere Aufnahmen zeigten sie allein auf den Bühnen dieser Welt, hofiert, im Scheinwerferlicht, mit Blumen beschenkt und in ihrer Lieblingspose: leicht verneigt, die Hände flach aneinandergelegt und so weit vors Gesicht geführt, dass ihre
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