Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
knallroten Lippen die Spitzen der Zeigefinger berührten. Sie trug imposante Gewänder, in jungen Jahren noch bunt, später einfach nur schlicht und schwarz. Sidonie Federspiel musste nicht mehr mit Kleidern auf sich aufmerksam machen, sie war eine Diva, sie war berühmt, sie strahlte immer.
Ich weiß nicht, wie alt sie war, als ich zu ihr kam, aber ich schätze, sie musste auf die Achtzig zugehen, genau wie ich. Sie war nicht besonders groß, aber auf ihren geschätzten hundertfünfundsechzig Zentimetern war eine Menge Gewicht verteilt. Sie hatte einen riesigen Busen, über den täglich dieselbe Perlenkette fiel, ihr Haar war grau mit einem leichten Stich ins Violette, und sie achtete peinlich genau darauf, immer perfekt frisiert und geschminkt zu sein. Um ihren Mund lagen winzige Falten, die besonders sichtbar wurden, wenn sie sich die Lippenstift auflegte. Überhaupt hatte sie unglaublich viele Falten, ihre Haut sah aus, als wäre sie darin geschrumpft. Doch ihre schwarzen Augen schauten immer so durchdringend, so messerscharf, dass es einem selbst als harmloser Bär kalt den Rücken herunterlaufen konnte. Ich musste oft an die Hexe in Roberts Kampf gegen Samir-Unka denken. Wahrlich, Madame Federspiel hätte eine würdige Hexe abgegeben.
Der Schallplattenspieler drehte knisternd seine Runden. Die Madame hatte eine Platte von 1969 aufgelegt, Tosca, dirigiert von irgendeinem berühmten Mann mit ihr in der Rolle der Floria. Ihr Vibrato von vor dreißig Jahren klang kräftig durch den grauen Nachmittag, während sie in sich und die Musik versunken in ihrem Sessel saß. Sie hielt die Augen geschlossen und träumte von den glanzvollen Zeiten. Lisette sprang auf ihren Schoß und rollte sich dort zusammen, Madames Hand legte sich auf den warmen Katzenkörper, und ich spürte neben unbändigem Abscheu diesem Vierbeiner gegenüber nur einen leichten Stich des Bedauerns, dass mich alten Bären schon lange niemand mehr so gestreichelt hatte.
Ich verbrachte ebenfalls viel Zeit damit, zu träumen, denn dieses museale Leben im neunten Wiener Bezirk hielt nur noch eine Herausforderung für mich bereit, und das war der tägliche Kampf gegen Ping, Pang und Pong, Mimi, Musetta, Rodolfo, Colline, Suzy, Lisette, Giorgetta, Talpa, Rombaldo, Liu und Tinca, Madame Federspiels vierzehn Katzen. Jede von ihnen war mehr als einmal auf mich losgegangen, hatte mich gekratzt, gejagt (so, wie sie es mit toten Mäusen tun: Sie schleudern sie in die Luft, tun dann ganz überrascht und stürzen sich darauf), und zu guter Letzt bin ich auch noch angepinkelt worden. Ja, angepinkelt. Das war bis gestern noch nie vorgekommen, und das Schlimmste daran war, ich wusste nicht einmal, wer es war, Ping, Pang oder Pong. Die drei Siamkater sahen einander zum Verwechseln ähnlich. Der beißende Geruch des Katzenurins hatte sich in mein Fell geätzt, und ich dachte fast sehnsüchtig an den Geruch von Brioches Rotwein, der mir im Verhältnis tausendmal besser gefallen hatte.
Wie nennt man so etwas? Vorhölle? Ich fragte mich in diesen Jahren immer wieder, was ich Unrechtes getan hatte, dass mich das Leben auf meine alten Tage so abstrafte. Ich hatte doch nicht verhindern können, was bei den Hofmanns geschah, und auch die traurigen Ereignisse in Budapest hatte ich nicht ändern können. Aber das war doch kein Grund, mich so zu traktieren!
Seit neuneinhalb Jahren lebte ich bei Sidonie Federspiel in der Döblinger Hauptstraße. In den ersten beiden Jahren kamen noch regelmäßig Schülerinnen zu ihr, denen sie Gesang beizubringen versuchte, doch ihre Geduld ließ nach und zudem wurde sie immer wunderlicher. Während der Stunden redete sie vor sich hin, sie zwang die Kinder dazu, sich ihre alten Fotos anzusehen, und es kam vor, dass die Stunden vergingen, ohne dass sie überhaupt mit ihnen sang. Eine Schülerin nach der anderen bekam Angst vor ihr und wollte nicht mehr zum Unterricht kommen. Und irgendwann blieben sie alle fort.
»Allesamt ohne Talent. Faules Pack, diese Jugend. Faul und untalentiert. Ich habe mir meinen Erfolg auch hart erarbeitet. Ich habe mich Stück für Stück hochgesungen. Nein, man fängt nicht gleich an der Scala an. Opern wollen sie singen, Opern! Und kriegen nicht mal das einfachste Schumann-Liedchen hin«, schimpfte sie, als auch ihre letzte Schülerin das Weite gesucht hatte.
In den vergangenen sieben Jahren hatten wir acht Mal von der Familie aus Budapest Besuch gehabt. Drei Mal waren die Handwerker da, um den Wasserschaden zu
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