Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
reparieren, den Madame verursacht hatte, weil sie den Wasserhahn in der Küche nicht richtig zugedreht hatte. Zwei Mal klingelten Vertreter an der Tür, doch die beschimpfte Madame durch den Türspalt, und ein Mal brachte der Paketbote ein Päckchen, das jedoch ein Irrläufer und an die falsche Adresse gegangen war. Zu Weihnachten schrieb pflichtgemäß ihr Enkel Gyula aus Budapest, später aus New York, und er ließ mich, wie zu erwarten, nie grüßen. Sonst kam fast nie Post.
Im Gegensatz zu mir liebte Sidonie Federspiel die Einsamkeit. Sie hatte nichts dagegen, in ihrer riesigen Wohnung allein zu sein, Musik zu hören, mit ihren Katzen zu sprechen und in Erinnerungen zu schwelgen. Ich konnte es hingegen nur schwer aushalten, hier drinnen zu sitzen, während sich draußen die Welt weiterdrehte. Gut, ich hatte immer mal wieder ein paar Jahre in einem Regal verbracht und dem Leben zugesehen, aber es hatte immer ein Leben gegeben, dem ich hatte zuschauen können. Ich hatte immer mitbekommen, wie die Welt sich veränderte, wie die Menschen sich veränderten – doch hier, in dieser Wohnung stand die Zeit still.
Madame Federspiel veränderte sich nicht besonders. Sie trug immer dieselben eleganten Kleider. Sie kaufte über Jahre wöchentlich die gleichen Lebensmittel ein – und schrieb trotzdem jeden Mittwoch einen neuen Einkaufszettel –, und sie hatte nicht mal einen Fernseher! Aber Madame Federspiel wollte keine Glotze haben, wie sie dem Vertreter an der Tür mitteilte, und damit war das Thema für uns gestorben.
Nachmittags gegen vier, wenn sie ihren Mittagsschlaf beendet hatte, goss sie sich gerne einen Piccolo ein – die kleinen Sektfläschchen fehlten nie auf ihrem Einkaufszettel – und legte eine Platte auf. Aus dem alten Schrank, der neben dem Regal stand, in dem ich saß, holte sie einen grauen Schuhkarton heraus, dann ließ sie sich ächzend in ihren Lieblingssessel fallen. Das Beistelltischchen neben ihrem Stuhl stand dicht genug, dass sie auch an ihr Glas herankam, wenn die Lehne zurückgestellt war. Ich wusste, was dann kam. Die Fotos. Madame Federspiel wollte nichts Neues mehr vom Leben, sie hatte genug erlebt, und das schaute sie sich fast täglich wieder an. Vielleicht, um nicht zu vergessen, wer sie war. Ich glaube, sie war nicht unglücklich, jedenfalls nicht so unglücklich wie ich.
Manchmal saß ich in diesem Erinnerungskabinett und dachte wehmütig an Isabelle. Ich glaube, es steht mir zu, zu sagen, dass die Jahre mit ihr die besten waren. Meine Isabelle, was hatten wir nicht alles zusammen erlebt! Damals hatten wir einen Film angesehen, der den Titel Endstation Sehnsucht trug. Ich erinnere mich nur dunkel an die Handlung, denn Isabelle schwärmte so lautstark für den Hauptdarsteller, dass ich die Hälfte der Dialoge nicht mitbekommen hatte, aber das Gefühl, das allein der Titel hinterließ, beschreibt meine Situation im Hause Federspiel einigermaßen treffend. Ich hatte es mir, wie immer, nicht aussuchen können und war hierhergeraten, wie ich letztendlich überall in meinem Leben hingeraten war: auf Umwegen und mehr oder weniger durch Zufall.
Mit Heulen und Zähneklappern war 1983 der Kampf im Hause Hofmann in die letzte Runde gegangen.
Claire reiste ab. Ohne Laura, ohne Bernard und wahrscheinlich ohne das Gefühl, ihr Leben wirklich in Ordnung gebracht zu haben. Doch wer bin ich, dass ich mir ein Urteil anmaßen kann. Ich bekomme ja immer nur Ausschnitte aus Leben mit und kann nur ahnen, was die Menschen wirklich bewegt. Ich wusste nichts über die Liebe, die Claire und Bernard einmal verbunden hatte, und ich wusste nicht, wie sie verblüht war.
Den 11. Februar im Jahr 1983 wird Laura vermutlich für immer schwarz in ihrem Kalender anstreichen. Es war der Tag, an dem ihre Familie zerbrach. Ihre Verzweiflung war nicht zu überhören, als sie vom Flughafen in Zürich zurückkamen. Türen knallten, Dinge wurden geworfen (Laura liebte es, in Rage Dinge zu werfen) und Laura stürzte in ihr Zimmer. Ich saß zwischen Ein Mann für Mama und Der Türkisvogel im Bücherregal und stürzte herunter, als die Tür so heftig ins Schloss fiel, dass die Wände wackelten. Sie drehte den Schlüssel um. Es klopfte.
»Laura, ich bin’s, Papa.«
Wer sonst? Es war ja kein anderer mehr da.
»Mach doch mal die Tür auf.«
»Geh weg.«
»Nein, ich möchte mit dir sprechen.«
»Ich aber nicht mit dir.«
»Laura, hör mir mal zu. Mama ist ja nicht für immer weg. Wir beide machen uns eine gute Zeit
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