Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Sie meldet sich sicher.«
Doch sie rief nicht an. Nicht an diesem Tag und nicht am nächsten.
Bernard und Laura kamen anfangs nur leidlich zurecht, was nicht weiter verwunderlich ist, befanden sie sich doch in einer Situation, die sie beide nicht gewollt hatten.
Ich befand mich im Übrigen auch in einer Situation, die ich nicht gewollt hatte, falls ich das nebenbei bemerken darf. Ich teilte mein Leben mit alten Puppen, in Ungnade gefallenem Spielzeug und einer vernachlässigten Ratte. Ich bewegte mich in Lauras Wertschätzung aus unerfindlichen Gründen irgendwo zwischen alldem. Als sie in einem Anfall von Pubertät viele Kartons mit altem Plunder füllte, wanderten auch Barbie eins bis vier auf den Dachboden. Lieber, als dass die Barbietruppe auszog, hätte ich die Verbannung der Ratte gehabt, doch Larry blieb, genau wie ich. Ich wunderte mich, dass ich nicht ins Exil geschickt wurde, viel Freude hatte Laura an mir nicht gehabt, und ich glaube, sie hat mich auch nie richtig geliebt. Was fand sie an mir? Welchen Zweck erfüllte ich für sie? Ich bekam nie eine Antwort auf diese Frage.
Claire kam nicht zurück.
Bernard, der gute, aber schwache Bernard, schien fast erleichtert, als Claire ihnen ihre Entscheidung mitteilte. Claire hatte für sie alle entschieden und so auf eine Weise recht behalten: Es war für sie alle am besten, dass sie nach Äthiopien gegangen war. Doch Laura vermisste ihre Mutter. Anfangs wütend und laut, später leise und irgendwann fast unhörbar. Aber das Vermissen hörte nie auf. Es grub sich in ihr Mädchenherz und strahlte immer aus ihren Augen, selbst wenn sie fröhlich war. Sie wollte sich nicht aus lauter Kummer das Leben nehmen, sie wurde auch nicht magersüchtig oder drogenabhängig, sie wurde ein ganz normales Mädchen. Nur dass ihr Herz eine Narbe trug, die ein Leben lang bleiben würde.
Claire hatte sie nicht festgehalten.
Nina hingegen hatte keine Narbe am Herzen.
Das war so ziemlich das Einzige, was Bernard ausschließen konnte, als er das kleine Mädchen untersuchte.
Wir waren mehr als tausend Kilometer gefahren, um Nina zu untersuchen, nachdem Maurus, ihr Vater, Bernard einen langen Brief geschrieben hatte.
»Laura, was hältst du davon, wenn wir in den Herbstferien nach Budapest fahren?«, hatte Bernard gefragt, als Laura den Samstagabend ausnahmsweise mit ihm verbrachte, anstatt in die Jugenddisco in der Färbi zu gehen. Üblicherweise schauten Bernard und ich samstagabends allein Fernsehen. Er vom Sofa aus, ich von der Fensterbank, auf die ich dankbar umgezogen war, als Laura ihre Zimmerwände blau gestrichen, die Fenster mit Seidentüchern abgehängt und überall Räucherstäbchen verteilt hatte.
»Mir doch egal«, hatte Laura gesagt.
»Ach, komm, aus dem Alter bist du doch wirklich raus. Das wäre doch mal eine schöne Abwechslung, findest du nicht? Wer weiß, ob du nächstes Jahr überhaupt noch mit mir irgendwohin willst.«
Der Einwand war berechtigt. Laura war bald achtzehn, sie hatte wieder ihre normale Haarfarbe und eine leichte Dauerwelle, sie trug Jeans, Turnschuhe und Schlabberpullis, die sie in der Taille mit einem breiten Gürtel zusammenschnürte. Sie sah fast erwachsen aus, fand ich, auch wenn sie sich nicht immer so benahm.
»Und was sollen wir da?«
»Maurus hat uns eingeladen.«
»Wer ist Maurus?«
Von Maurus hatte ich auch noch nie gehört. Und ich passte immer sehr genau auf, wenn Namen fielen. In den vergangenen Jahren waren es hauptsächlich Frauennamen gewesen, und die meisten davon hatte man sich nicht merken müssen. Aber Maurus war neu.
»Ein Freund aus Budapest. Er ist Pianist.«
»Wieso kennst du denn Leute in Budapest?«
»Ich habe mal drei Semester an der Semmelweis-Universität studiert, wusstest du das nicht? Was dachtest du denn, wo ich deine Mutter kennengelernt habe?«
»Welche Mutter?«, versetzte Laura trocken.
Bernard überging den Einwurf seiner Tochter. Ich sah genau, wie ihre Kälte ihm jedes Mal einen Stich versetzte.
»Jedenfalls hat er eine kleine Tochter, die seit Wochen krank ist. Die Ärzte in Budapest kommen nicht dahinter, was sie hat. Er bittet mich um Hilfe.«
»Aha, daher weht der Wind.«
»Ich möchte, dass du mit mir fährst. Es täte dir gut, mal hier rauszukommen. Vielleicht inspiriert dich das ja ein bisschen bezüglich deiner Studienwahl.«
»Erst mal muss ich das Abi schaffen.«
»Dann kannst du für den Politikunterricht ja mal den Sozialismus am lebenden Objekt studieren. Es geht nichts
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