Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
über die eigene Erfahrung, glaub mir.«
Laura verdrehte die Augen, aber eine Woche später saßen wir alle drei im Auto.
Wieso ich dabei war, nachdem man mich doch schon seit Jahren nur noch einmal wöchentlich abstaubte und ansonsten nichts weiter tat, als mich von einer Ecke in die andere zu setzen? Nun, Laura und Bernard hatten mich gemeinschaftlich als Gastgeschenk für die kleine Nina Andrássy auserkoren – natürlich ohne mich zu fragen. Warum auch? Aber hätten sie gefragt, ich hätte vor Freude gejubelt, ich hätte gesagt:
Ja, gebt mich ruhig weg, ihr braucht mich wirklich nicht mehr.
Sie hatten sich in ihrem Vater-Tochter-und-wechselnde-Freunde-und-Freundinnen-Leben gut eingerichtet, hatten sich auf Tiefkühlpizza im Not- und abwechselnd Kochen im Regelfall geeinigt.
Bernard vertraute Laura, und sie versuchte, ihn nicht häufiger als nötig zu enttäuschen. Er durfte über Nacht manchmal fortbleiben, und sie durfte ihren ersten Freund zum Übernachten mit nach Hause bringen. Weihnachten und Geburtstage verbrachten sie in Zweisamkeit und ließen Claires Karten immer bis zum Schluss möglichst unbeachtet. Mit der Zeit hatten sie gelernt, über fast alles zu sprechen. Fast alles. Nur über Claire konnten sie nicht reden, ohne dass die Emotionen hochkochten – auch noch nach fünf Jahren –, weshalb das Thema »Mutter und Afrika« mehr oder weniger erfolgreich unter den Teppich gekehrt wurde. Sie kamen zurecht. Ich war in der Hüblistraße wirklich überflüssig.
Nina war neun, sie hatte unglaublich große braune Augen und war sehr, sehr dünn, als wir uns kennenlernten. Laura zog mich aus dem Rucksack, und ich erfasste mit einem Blick die neue Umgebung. In dem geräumigen, aber dunklen Wohnzimmer der Andrássys lag ein Kind unter einer braunen Wolldecke auf dem Sofa. An den hohen Wänden hingen Gemälde in schweren Rahmen, und die Möbel waren ebenfalls aus dunklem Holz. Neben dem Sofa standen ein Tisch und eine Lampe, die mich sehr an das Mobiliar erinnerte, das modern wurde, als ich bei den Rosners in Dreihausen lebte. Fünfzigerjahre-Tütenlampen und -Nierentische. Ich fühlte mich gleich heimisch. Eine solche Einrichtung war mir lieber als das kalte Ledersofa-Monster in Olten.
Nina, das Mädchen auf dem Sofa, nahm mich mit ihren kleinen Händen von Laura entgegen und strahlte. Ich fühlte die Veränderung, als ich die Besitzerin wechselte, genau. Es war selten gewesen, dass ich so bewusst und gezielt weggegeben wurde, und mir war ganz feierlich zumute, als ich Lauras Hände verließ und Nina mich zum ersten Mal umfasste. Mir ging das Herz auf, als ich diese runden Augen leuchten sah. Dies ist ein Mädchen nach meinem Geschmack, dachte ich. In ihrer hellen, klaren Stimme sagte sie die einzigen deutschen Wörter, die sie kannte:
»Danke, Genossen.« Sie lächelte fast frech.
Bernard brach in lautes Lachen aus, strich Nina über den Kopf und sagte:
»Es ist uns eine Ehre!«
Ihre Augen lachten mit, doch ihr Mund hustete. Ich erschrak, als sie mich vor Anstrengung fest drückte. Aus ihrem Mund lief ein Speichelfaden, den sie verschämt fortwischte. Sie wollte nicht schwach erscheinen. Es war merkwürdig. Ich hatte doch gewusst, dass sie krank war, darum waren wir schließlich hier, doch ich hatte vergessen, wie es sich anfühlt, wenn so ein kleiner Körper vor Erschöpfung bebt.
Hinter Bernard standen ein kleiner, schmaler Mann um die Vierzig und eine Frau, die mindestens einen Kopf größer war als er. Sie hatte ein offenes, freundliches Gesicht, eine dunkelblonde Lockenmähne und einen breiten Mund. Bei ihm fielen mir, neben seiner markanten Nase, seine intensiven Augen und seine langen, feingliedrigen Finger auf. Das mussten Maurus und Ilona sein. Sie beobachteten, wie Nina mich zärtlich an sich drückte.
»Du bist mein Mici Mackó«, flüsterte sie in mein Ohr.
Ja, das bin ich wohl.
Ich fühlte mich warm und glücklich.
Das war am Tag nach unserer Ankunft – bevor Bernard Nina untersucht hatte.
Wir waren erst spät am Abend angekommen und hatten eine lange Autofahrt hinter uns. Da sich Laura bei Tempo 130 keine Fluchtmöglichkeit bot, nutzte Bernard die Gelegenheit, seiner Tochter Nachhilfe in politischer Bildung zu geben. Während sie schweigend aus dem Fenster starrte, erzählte er, dass Ungarn viel liberaler sei als die anderen sozialistischen Staaten.
Stellte sich die Frage, was ein sozialistischer Staat war. Deutschland? Irgendwas war doch da mit Sozialismus gewesen. Doch bevor
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