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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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ich weiter darüber nachgrübeln konnte, fuhr Bernard fort:
    »Dieser Gulaschkommunismus hält sich doch auch nicht mehr lang. Die Ungarn sind viel zu clever, um weiter an dieser Bauernpolitik festzuhalten. Sie wollen eine Öffnung zum Westen, mehr noch als die Tschechoslowakei oder Rumänien oder Russland.«
    Ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Dunkel erinnerte ich mich, dass Isabelle während der Studentenrevolution die großen kommunistischen Geister beschwor, doch was sie eigentlich gefordert hatte, war mir immer unklar geblieben. Um Gleichheit war es gegangen. War ich Kommunist, weil für mich alle Menschen gleich waren? Das war eine interessante Frage.
    Bernard hatte seinen Vortrag abgeschlossen, als wir uns der Hauptstadt näherten. Er musste sich konzentrieren.
    Im Regen fuhren wir kreuz und quer durch Budapests Straßen, auf der Suche nach Maurus Adresse.
    »Ich kenne Józsefváros wie meine Westentasche«, behauptete Bernard. »Wir müssen nur nach Pest, dann finde ich den Weg in den Achten Bezirk wie im Schlaf.«
    Ich hörte die Scheibenwischer schnell über die Scheibe rutschen, die Reifen durchschnitten Pfützen, und es spritzte. Wir fuhren drei Mal über die Freiheitsbrücke, ehe Bernard sicher war, ob wir uns nun in Buda oder in Pest befanden. Laura stöhnte.
    »Mensch, Papa, dann lass uns doch fragen.«
    »Nein, die verstehen uns doch sowieso nicht«, sagte er und fuhr immer weiter. »Und wir sie auch nicht.«
    »Ich denke, du hast hier gewohnt!«
    »Ja, aber die Leute haben alle Deutsch gesprochen. Versuch mal Ungarisch zu lernen, das ist eine Wissenschaft für sich!«
    Sie schwiegen, und Bernards Fahrweise wurde immer ungeduldiger.
    »Da«, rief er mindestens vier Mal, »das ist die Universität, glaube ich.«
    »Papa!«, sagte Laura entnervt nach eineinhalb Stunden. »Halt doch mal an, ich frage jetzt.«
    »Nein, siehst du, ich wusste es doch, hier ist die Üllöi ût, jetzt kann es nicht mehr weit sein!«
    Leider bekam ich außer den Kommentaren von der Stadtrundfahrt nichts mit, denn ich steckte in einer der drei großen Reisetaschen, zwischen anderen merkwürdigen Mitbringseln wie Kaffee, Nutella, Gummibärchen, Olivenöl und Tampons und noch allerlei Büchern und Noten.
    »Da, das muss die richtige Straße sein, guck doch mal auf das Schild.«
    »Fahr mal langsam«, sagte Laura und las: »Mátyás utca. Ist es das?«
    »Ja«, rief Bernard begeistert, »ich erkenne es genau wieder, da, das große Eckhaus. Und da, ja, dahinten ist es.«
    »Thank God«, sagte Laura.
    »Was hast du denn, ist doch alles reibungslos gegangen. Und immerhin hast du jetzt auch schon einen Eindruck von Budapest gewonnen. Ist das nichts?«
    »Ich finde, es ist unheimlich grau hier«, sagte Laura. »Und die fahren alle so komische Autos, die sehen aus wie aus Plastik.«
    »Nachts sind alle Städte grau. Morgen sieht das schon ganz anders aus! Du wirst Budapest lieben, die Donau ist ein herrlicher Fluss, und man hat Ausblicke …«, sagte Bernard begeistert.
    »Papa«, sagte Laura streng, »du bist echt schrecklich, wenn du so euphorisch bist.«
    Nachdem er am nächsten Tag Nina untersucht hatte, legte sich Bernards Euphorie schnell wieder. Er hatte ein ernstes Gesicht, als er sie abhörte.
    »Das machst du prima«, sagte er und ließ sie tief ein- und ausatmen. Dieses Hörrohr am Schlauch kannte ich noch aus der Zeit von Isabelles Lungenentzündung. Es weckte keine guten Erinnerungen in mir.
    Nina sah Bernard mit großen Augen an.
    »Jetzt piekst es noch einmal kurz«, sagte er, zwinkerte ihr zu und drückte eine Spritzennadel in ihren mageren Arm. Nina zuckte, gab aber keinen Ton von sich. Mir wurde beinahe schwarz vor Augen.
    »So, und das war es erst mal«, erklärte er und lächelte Nina an. »Du bist ja schon ein großes Mädchen, wie alt bist du denn?«
    Nina sah ihren Vater fragend an.
    »Kilenc«, sagte Maurus, »neun. Sie wird im Juni zehn.«
    »Na, das wird ein Fest, was?«, sagte Bernard zu Nina. Maurus übersetzte, und das Mädchen nickte eifrig.
    »Igen !«, sagte sie. Und Maurus erklärte:
    »Sie wünscht sich seit Monaten, dass wir an ihrem zehnten Geburtstag in den Zirkus gehen!«
    Ich will auch sehr gerne in den Zirkus! Schon mein Leben lang!
    »Gut, dann lassen wir die kleine Patientin mal ein bisschen in Ruhe, damit aus dem Plan etwas werden kann.«
    In Bernards Stimme lag zu viel gewollte Fröhlichkeit. Ich kannte das bei ihm. So hatte er früher immer mit Laura gesprochen, wenn er selbst

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