Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
willkommen heißen«, er schaute über seine Brille hinweg, »und was haben wir über Familienmitglieder gelernt, Lili?«
»Dass wir einander respektieren und achten«, betete das Mädchen herunter und wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Und was haben wir noch über den Umgang mit Menschen gelernt, Leo?«
»Dass jeder sein eigener Herr ist und Verantwortung übernimmt.«
»Bitte. Es geht doch. Sind Sie einverstanden, Cathy? Die Zeiten der Leibeigenschaft haben wir ja Gott sei Dank hinter uns gelassen, nicht wahr, wir sind ja nicht in Indien.«
Cathy wurde knallrot und nickte bloß.
Außer mir wusste jeder der Anwesenden, dass Victor, dessen Vater sich in Indien in einen Kolonialwahn gesteigert hatte und auf verachtungswürdige Weise ganze Landstriche ausbeutete, nichts mehr verabscheute als Ungerechtigkeit, Unaufrichtigkeit und Sklaverei. Ich wusste auch nicht, dass Moralphilosophie zu seinen liebsten Themen zählte, ebenso wenig wusste ich, dass er in der Gesellschaft als integrer Verleger großer und kleiner Literatur bekannt und in dieser Funktion hochgeschätzt war, geschweige denn, was genau das bedeutete. Ich wusste nicht, dass man munkelte, er ginge mit seinen Autoren zu gut und mit seinem Personal zu nachsichtig um. All das erfuhr ich später aus den Gesprächen, die Victor mit Lord Malcolm Forsythe und Leonard Woolf – beides regelmäßige Besucher in unserem Hause – vor dem Kamin im Herrenzimmer führte.
An diesem Abend war ich die personifizierte Ahnungslosigkeit, ich wusste ja nicht einmal, wo genau ich gelandet war. Diese Familie kam so plötzlich in mein Leben wie ein Schneeschauer in den Bergen von Hadanger (und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass in Norwegen sogar im Sommer plötzlich Schnee fallen kann).
Am Weihnachtsabend 1921 im Salon des Fitzroy Square 34 hatte Victor meinen neuen Lebensabschnitt eingeläutet, der nicht der Schlechteste werden sollte.
Nachdem Cathy mich aus dem Staub gefischt hatte, war Victor derjenige, der mich schließlich vor dem untröstlichen Dasein eines Spielzeugs in Lilis und Leos Kinderzimmer rettete. Nicht auszudenken, wie mein Leben dort verlaufen wäre. Sie hätten sich wahrscheinlich noch zwei oder drei Mal um mich gezankt, dann wäre mir der Arm abgerissen worden und sie hätten das Interesse verloren. Victor hingegen hatte mit seinem Trick dafür gesorgt, dass die Kinder sorgsam mit mir umgehen würden. Und das taten sie auch. Meistens jedenfalls.
Ich schaute in das Gesicht dieses hoch gewachsenen Mannes und verspürte eine große Zugneigung, auch wenn ich so gut wie gar nichts Vertrautes in seinem Wesen fand. Er war eben ein Mann. Und was wusste ich schon über Männer? Mit ihnen kannte ich mich zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig aus wie mit Kindern, bislang hatte ich so gesehen nur Erfahrung mit Frauen (wenn man von der kurzen Begegnung mit Milton einmal absieht).
Ich studierte Victor. Er musste die Vierzig soeben hinter sich gelassen haben. Ebenso wie Leo hatte er blaue Augen, eine unauffällige Nase und einen breiten Mund. Über die Oberlippe zog sich ein schmaler, fein getrimmter, heller Schnurbart, der die häufig nach oben gezogenen Mundwinkel noch betonte. Sein Haar war mit Brillantine zurückgekämmt, und er machte einen überaus korrekten Eindruck.
An besagtem Weihnachtsabend war ich jedoch zu verwirrt von den plötzlichen Richtungswechseln meines Lebens, um mir weiter Gedanken zu machen. Victor hatte mir mit einer nahezu staatstragenden Verlautbarung ein neues Zuhause geboten und deutlich gezeigt, wer der ruhende Pol in dieser Familie war. Ich beschloss, mich vorerst an ihn zu halten. Er schaute in die Runde, und es hatte den Anschein, als wolle er die Familie noch die Nationalhymne singen lassen, doch das geschah glücklicherweise nicht.
Lili und Leo hatten ihren Streit bereits vergessen. Sie wussten, dass es keinen Sinn hatte, ihrem Vater zu widersprechen – was Victor beschloss, galt in der Familie als Gesetz. Allein Emily hatte das Privileg, Einwände zu erheben, die dann auch Gehör fanden, doch sie nutzte es selten. Und es dauerte nur wenige Tage, bis ich erkannte, weshalb es sich so verhielt: Victor besaß die Gabe, jede Situation mit Ruhe und Gelassenheit zu bestehen. Er war ein wandelndes Lexikon, hatte für jeden ein Ohr und auf alles eine Antwort. Ob man wollte oder nicht.
»Und wo wird der Bär schlafen?«, fragte Lili ihren Vater. Und ich war froh, dass sich noch jemand außer mir diese Frage
Weitere Kostenlose Bücher