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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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schlau. Ätsch!«
    »Ach ja? Wer dachte denn gerade noch, dass Amerika zum Empire gehört?«
    Leo streckte Lili die Zunge raus. Lili ignorierte ihn und steckte die Nase noch tiefer in ihr Buch.
    Ich war noch gar nicht richtig wach, da hatten die beiden es schon wieder geschafft, sich in den Haaren zu liegen. Ich ahnte ja nicht, dass kaum ein Tag, was sage ich, kaum je eine Stunde vergehen würde, ohne dass sie sich stritten.
    Dieses kleine unbedeutende Gezänk am Weihnachtsmorgen war exemplarisch für das Verhältnis der beiden. Leo war zwar der Ältere, doch nur um ein Jahr, und seine Schwester, man kann es nicht anders sagen, war einfach klüger als er. Was er ihr an Stärke voraus hatte, machte sie mit Pfiffigkeit tausendmal wett. Sie schaffte es immer, ihn zu provozieren, und ließ selten eine Gelegenheit aus – und er war fast nie geistesgegenwärtig genug, sich nicht darauf einzulassen. Dafür war er auf eine Weise stur und beharrlich, die Lili häufig veranlasste nachzugeben, einfach, weil ihr die Puste ausging.
    Ich sah manchmal, wie Victor sich im Stillen über die »Diskussionsfreude«, wie er es nannte, seiner Kinder amüsierte. Und ich glaube, er bewunderte Lili, genau wie ich. Ich hielt immer zu ihr. Nein, nicht immer, eigentlich erst nach Leos Sündenfall. Anfangs, nachdem ich meine erste Furcht vor ihnen überwunden hatte, liebte ich sie noch beide.
    Beim Frühstück war es amtlich. Ich war Mitglied der Familie. Leo nahm mich mit an den Tisch, wo ich auf denselben Stuhl wie am Abend zuvor gesetzt wurde. Lili stellte einen Teller und eine Tasse ihres Puppengeschirrs an meinen Platz und setzte sich neben mich.
    James trug Tee und warme Scones auf, Orangenmarmelade und Porridge und heiße Schokolade für die Kinder. Dann sprach Emily ein kurzes Tischgebet.
    Ich muss sagen, es war ein unerwarteter Moment des Glücks, der mich so unvermittelt ereilte, dass ich ihn einfach genoss. Hinterher stach ein wenig das schlechte Gewissen wegen Alice. Es schien mir nicht recht, dass ich kaum einen halben Tag nach unserer Trennung schon so zufrieden in meiner neuen Umgebung war. Um ihretwillen hätte ich wohl noch ein bisschen unglücklich sein können, doch ich beruhigte mich mit dem Gedanken, dass ich sie keineswegs weniger vermissen würde, nur weil es mir jetzt gut ging.
    Ist es nicht seltsam? Noch vor einem Tag hatte ich kaum eine Vorstellung davon gehabt, was eine Familie war, und plötzlich war ich ganz selbstverständlich ein Teil davon geworden. Bislang war Alice meine Familie gewesen, Mutter und Schwester in einer Person, und doch merkte ich schnell, dass dies hier etwas anderes war. Mehr.
    Das Schicksal hatte mir diese Familie auf den Leib geschneidert – falls man das so sagen kann. Ich passte einfach perfekt zu ihnen.
    Während des Frühstücks erschien Cathy im Salon.
    »Mister Brown? Sie werden am Telefon verlangt, Sir.«
    Es ist vielleicht ein wenig peinlich, das einzugestehen, doch ich will hier nichts verheimlichen. Für eine Sekunde glaubte ich wirklich, sie hätte mich gemeint.
    »Ich komme, danke, Cathy«, sagte Victor und erhob sich von der Tafel. Er wischte sich mit der Stoffserviette über den Mund und brummte: »Wehe, es ist nichts Lebensbedrohliches«, und ging in sein Büro.
    Ich konnte kaum fassen, was ich da gerade gehört hatte. Ich war bei meinesgleichen gelandet! Sie hießen Brown, allesamt. Victor und Emily, Lilian und Leonard Brown. Ich war begeistert. Wie gut, dass Alice damals darauf bestanden hatte, mich Henry Brown zu nennen, fast als hätte sie geahnt, dass mein Weg in dieses Haus in Bloomsbury führen würde. Warme Dankbarkeit erfüllte mein Herz. Alice hatte gewusst, was richtig war.
    »Und? Wie lebensbedrohlich war es denn?«, fragte Emily, als Victor zurückkam. Sie sah ihren Mann forschend an.
    »Das war Leonard«, sagte Victor, als er sich wieder auf dem Stuhl mir gegenüber niederließ. Eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn.
    »Er kommt morgen aus Richmond. Es gibt ein paar Probleme bei Hogarth’s Press. Außerdem hat Virginia offenbar wieder eine Krise. Er sagt, sie schriebe wie besessen und sei kaum ansprechbar. Gestern hat sie sich einfach aus dem Haus geschlichen und er musste sie am Bahnhof wieder auflesen. Sie hatte nicht einmal einen Mantel angezogen. Er macht sich Sorgen, der Gute. Verständlicherweise.«
    »Virginia ist seltsam«, sagte Lili.
    »Sie ist einfach ein wenig nervös«, sagte Emily. »So sind Schriftsteller manchmal, das weißt du

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