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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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doch.«
    »Sie ist verrückt«, sagte Leo. »Das hat Lord Malcolm gesagt.«
    »Ich glaube nicht, dass es dir zusteht, so über andere Leute zu sprechen«, sagte Emily und richtete sich mit einer energischen Geste die Frisur. »Du solltest dich schämen!«
    »Wieso darf Lord Malcolm dann so etwas sagen?«, fragte Leo trotzig zurück.
    »Er weiß es nicht besser. Es ist keine Heldentat, ihm nach dem Mund zu reden«, antwortete Emily.
    Victor, der seinen alten Schulfreund zwar sehr schätzte, jedoch nicht unbedingt aufgrund seines Feinsinns im Zwischenmenschlichen, erwiderte schlapp: »Lord Malcolm ist gar nicht so übel.«
    »Aber von Literatur hat er keine Ahnung, oder Daddy?«, bohrte Leo nach.
    »Er ist ein Angeber«, ging Lili dazwischen.
    »Lili, so etwas darfst du nicht sagen«, ermahnte Emily ihre Tochter.
    »Sagen nicht, aber denken wohl.«
    Lili schien nie um eine Antwort verlegen zu sein. Ich gewann zusehends Spaß an diesem familiären Wortgefecht.
    »Er ist einfach manchmal ein wenig plump«, versuchte Victor schließlich das Thema zu beenden. Doch Lili nagelte ihn fest:
    »Jetzt sprichst du selber schlecht über andere, und sogar über einen Freund der Familie«, wandte sie ein und sah ihren Vater herausfordernd an.
    Wer würde das letzte Wort behalten? Ich war gespannt.
    »Es besteht kein Grund, diese Diskussion weiter zu vertiefen«, sagte Victor streng, und ich bemerkte, dass es ihm nicht behagte, wenn seine Kinder ihn mit seinen eigenen Waffen schlugen. Emilys hintergründiges Lächeln verschwand in ihrer Serviette, und Victor sah sie indigniert an. Ich musste ebenfalls lächeln. Lili hätte beste Anlagen für das Amt der Königin gehabt, wenn dieser Posten noch zu haben gewesen wäre.
    »Habt ihr euch eigentlich schon Gedanken über einen Namen für den neuen Mister Brown gemacht? Solange der Bär keinen Namen hat, ist er noch kein vollwertiges Familienmitglied«, wechselte Victor abrupt das Thema.
    Ich bekam einen riesigen Schreck. Dieser Gedanke war mir noch gar nicht gekommen. Sie wussten ja nicht, dass sie es mit einem der ihren zu tun hatten. Sie hatten keine Ahnung, dass mein Name Henry N. Brown lautete, und dass ich keinen gesteigerten Wert darauf legte, daran etwas zu ändern.
    Ich heiße Henry Brown, also genauer gesagt Henry N. Brown, aber das N. ist nicht so wichtig. Henry. Bitte.
    »Wie wäre es mit Tiny Tim?«, schlug Lili vor, »so wie in der Weihnachtsgeschichte, die uns Daddy gestern vorgelesen hat.«
    »Der ist doch krank und muss sterben. Das ist zu traurig«, wandte Leo ein. »Dann schon lieber Scrooge.«
    Scrooge? Was ist denn in dich gefahren?
    »Was? Nein, auf keinen Fall. Scrooge ist doch so böse.« Lili war entsetzt.
    »Wie wäre es mit einem schönen englischen Namen?«, fragte Emily. »Vielleicht Miles?«
    Das wurde ja immer schlimmer.
    »Das ist langweilig, Mum«, erwiderte Leo nicht zu Unrecht.
    Ich war erleichtert.
    »Wie wäre es mit Paddington? Hat Cathy nicht gesagt, sie habe ihn dort von einem Händler gekauft?«, schlug Victor vor.
    Gekauft? Ach, Cathy, was hast du denn da erzählt? Bin ich als Findelbär nicht gut genug?
    »Wie ein Bahnhof? Nein, das geht nun wirklich nicht. Ich finde nicht, dass wir seine Herkunft auch noch betonen sollten«, tat Emily den Vorschlag ab. Wäre ich nicht ganz so grün hinter den Ohren gewesen, hätte ich ihrer Antwort entnehmen können, welche Rolle materielle Werte und gesellschaftliche Stellung in dieser Zeit spielten, Liberalität hin oder her.
    Ich folgte meiner Namensfindung mit großen Augen und Ohren. Was soll ich sagen? Victor war in dieser Familie derjenige mit der Nase für Erfolg versprechende Geschichten. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn sie mich Paddington genannt hätten? Vielleicht wäre ich der bekannteste Bär der Kinderliteratur geworden und nicht dieser andere Kollege aus Peru mit seinem Regenmantel und dem Schlapphut, von dem ich noch in diversen Kinderzimmern hören sollte. Ein merkwürdiger Zufall auch, dass er am selben Bahnhof gefunden wurde wie ich, von seinem Nachnamen ganz zu schweigen. Man könnte meinen, da hätte jemand in meiner Biografie geklaut. Manchmal frage ich mich, ob bei dieser Geschichte nicht Lili ihre Finger im Spiel hatte, es ist schade, dass ich niemals herausfinden werde, ob sie diesem Schriftsteller vielleicht von mir erzählt hat. Doch bis zu Paddingtons Auftritt auf der Bühne der Welt war es noch viele Jahre hin. An diesem Morgen ahnte jedenfalls noch keiner etwas

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