Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
ihrer Zigarette ziehend, von Selbstbestimmung sprach?
Was meinte Strachey, wenn er, sich den langen Bart streichend und die Brille auf die Nase schiebend, die verkommene viktorianische Moral beklagte?
Ich wusste es nicht.
Aber auch sie gaben sich dem Klatsch hin, kein bisschen besser als das Personal downstairs :
»Hast du schon gehört, E. M. ist zurück nach Indien gefahren. Zum Maharadscha …«
»Na, wenn der Gute meint, dass das seiner Kreativität nützt.«
Dann fragte ein anderer dazwischen: »Hat jemand den neusten Roman von Milne gelesen? Ich war so abgrundtief enttäuscht …«
»Was denn? Mr. Pim? Also ich fand es großartig erzählt.«
Und ein Dritter warf ein: »In der Zeitung schreiben sie jetzt fast jeden Tag über diesen indischen Anwalt. Ist es nicht vorbildlich, wie er sich für sein Volk einsetzt? Seit einigen Tagen ist er sogar in Hungerstreik getreten. Die Leute hierzulande sind so träge, sie wissen wahrhaftig nicht, wie man für eine Sache kämpft.«
In diesem Stil wurde bis spät in die Nacht über Kollegen und Freunde, Feinde und Bekannte geredet und diskutiert.
Tagsüber wurde schon dafür gesorgt, dass am Abend Essen und Getränke nicht ausgingen. Dann übertraf Mary Jane sich selbst, und Miss Hold achtete darauf, dass nirgendwo ein Stäubchen zu sehen war.
Von mir aus hätte es ewig so weitergehen können. Mit dem Klingeln des Milchmannes am Morgen begann der Tag, und er endete mit dem leisen Knistern des erlöschenden Kamins. Dazwischen lagen ereignisreiche Stunden, die mich mehr über das Leben lehrten, als Alice mir je hätte zeigen können. Dieses Haus war für einen wissbegierigen Bären wie mich das Paradies.
Doch wo das Paradies ist, ist leider auch der Sündenfall nicht weit.
Wie bereits angedeutet, war es Leo, der mein gesamtes Bild vom perfekten Glück ins Wanken brachte. Es war an einem Mittwoch im Sommer 1923.
Die Sonne schien für Londoner Verhältnisse ungewöhnlich warm. Es war ein herrlicher Tag. Vielleicht nicht unbedingt der richtige Tag, um Fenster zu putzen (von Marga Möhrchen lernte ich später, dass Fenster nicht bei Sonnenschein zu putzen sind, weil es dann Streifen gibt), doch Cathy nahm sich einen Eimer mit Seifenlauge, einen Stapel alter Zeitungen und stieg auf die Leiter. »Um den Browns wieder einen klaren Durchblick zu verschaffen«, wie sie James lachend mitteilte.
Ich saß ausnahmsweise im Salon und konnte von dort aus herrlich zusehen, wie sie mit gleichmäßigen Bewegungen die Scheiben polierte, auf und ab, nie im Kreis. James stand hinter ihr und hielt die Leiter, obwohl sie eigentlich, soweit ich sehen konnte, recht sicher stand. Aber ich will mir nicht anmaßen, das zu beurteilen.
Es war still im Haus. Die friedliche summende Stille eines Sommernachmittags. Von unten war leise Mary Janes Gesang zu hören. Sie trällerte ein Liebeslied: »Daisy, Daisy, give me your answer do …«
»I’m half crazy just for the love of you«, stimmte Cathy in die Strophe ein und schrubbte mit der Zeitung über das Glas, bis es glänzte.
James lachte.
»Ist das so, meine Daisy? Willst du mich auch?«, fragte er und fasste von hinten um ihre Taille.
Ich sperrte die Ohren auf. Irgendetwas in der Atmosphäre hatte sich verändert. Die Luft schien zu knistern.
Cathy fuhr herum. Die Wangen rot, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn.
»James. Lass das. Wenn das jemand sieht!«
Und sie hatte es kaum ausgesprochen, da flog die Tür auf. Leo kam hereingestürzt. James und Cathy fuhren auseinander, als hätte der Blitz zwischen ihnen eingeschlagen.
Leo stand atemlos vor ihnen und sah von einem zum anderen.
»Haben Sie sich die Füße abgetreten?«, fragte James geistesgegenwärtig, doch Leo antwortete ihm nicht.
»Cathy, ich brauche unbedingt meinen Tennisschläger, weißt du, wo er ist?«, schnaufte er. Das blonde Haar stand in allen Richtungen von seinem Kopf ab.
»Er ist sicher oben in Ihrem Zimmer«, antwortete Cathy, ohne ihn anzusehen. Sie tat so, als wäre sie intensiv mit den Fenstern beschäftigt.
»Nein, da ist er nicht, ich habe schon geschaut. Such ihn mir.«
»Ich muss erst die Fenster fertig putzen, sonst gibt es Streifen, ich komme in fünf Minuten.«
»Nein, ich will ihn jetzt haben. Missy und George warten schon.«
»Es geht ganz schnell, nur noch einen Moment.«
Plötzlich blitzte es in Leos Augen, ich sah es genau. Das Gesicht des Jungen verwandelte sich in diesem Moment, die Augen bekamen einen harten Glanz und schienen sich
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