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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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sich, die der Steward brachte, und jammerte leise, bis irgendwann Erschöpfung und frische Luft sie einschlafen ließen.
    An diesem Abend vergaß sie mich zum allerersten Mal. Sie ließ mich zurück, als sie in ihre Kabine ging. Unter den gegebenen Umständen sehe ich es ihr nach. Außerdem muss ich zugeben, dass ich die Nacht an Deck genoss. Es war eine merkwürdige Nacht.
    Der Wind hatte sich gelegt und hatte die Wolken mit sich genommen. In der Schwärze der Nacht leuchteten die Sterne hell vom Winterhimmel. Ich war wie berauscht von der Vielzahl der blinkenden Punkte – Victor hatte den Kindern die Sternbilder erklärt und erzählt, dass jeder dieser Punkte so groß sei wie die Erde oder noch größer. Diese Vorstellung geht bis heute über meinen Verstand, umso faszinierender finde ich sie jedoch.
    Aus dem Dunkel trat eine schattenhafte Gestalt. Ein Mann. Er trat an die Reling und blieb lange regungslos dort stehen. Er trug keinen Mantel, sein weißes Hemd flatterte und seine Haare wehten ihm ins Gesicht. Ihm musste furchtbar kalt sein, doch er schien die Kälte nicht zu spüren.
    Auf dem Schiff war Ruhe eingekehrt, die meisten Leute waren ins Bett gegangen, es war nichts weiter zu hören als das dumpfe Stampfen der Schiffsmotoren und das Rauschen der Wellen, weit unter uns.
    Erst als der Mann sich umdrehte und auf mich zukam, erkannte ich, dass es Mortimer Wright war. Müde ließ er sich auf den Deckchair sinken, in dem ich saß, und sprang rasch wieder auf, als er merkte, dass er sich auf meinen Kopf gesetzt hatte.
    Er hob mich auf.
    »Ach, du bist es, Bär«, sagte er. »Du hast mich erschreckt.«
    Ich lag auf seinem Schoß und wir schauten in den Himmel.
    »Ist das nicht ein unfassbarer Sternenhimmel?«
    Sprach er mit mir?
    »Wenn ich diese Millionen von Lichtern sehe, wird mir bewusst, wie bedeutungslos ein Menschenleben ist.«
    Es ist nicht bedeutungslos. Niemand lebt, ohne Spuren zu hinterlassen.
    »Es sind die einzigen Momente, die mir das Dasein erträglich machen.«
    Was ist so schlimm an deinem Leben, dass du dich bedeutungslos fühlst? Wieso bist du so traurig?
    »Ich habe auf dieser Erde nichts verloren«, sprach er weiter. »Die Menschen sind mir fremd. Ihre Gedanken, ihre Gefühle – ich verstehe sie einfach nicht. Aber was rede ich hier? Du verstehst mich sicher auch nicht.«
    Doch. Ich verstehe dich ganz genau. Leider. Mir geht es nämlich ähnlich.
    Mister Wright schwieg eine Weile und lehnte sich zurück. Ich hörte seinen Atem. Er schniefte.
    »Ich habe gedacht, wenn ich erst mal unter Menschen bin, dann würde alles anders, aber Tatsache ist, dass es nur noch schlimmer wird. Solche Leute wie Augusta Hobhouse – die machen mich verrückt. Ihr Geschwätz macht mich verrückt. Selbst so eine dumme Person kommt mit dem Leben zurecht. Und ich fühle mich wie ein Fremder, als käme ich von einem dieser Sterne da oben. Ich verstehe mich selbst nicht. Das macht mir Angst. Ich wünschte, dieses Gefühl würde verschwinden. Ich bin in mir selbst gefangen.«
    Warum befreist du dich nicht?
    »Ich brauche Frieden. In meinem Kopf muss endlich Ruhe herrschen! All diese Gedanken. Ich wünschte, jemand würde mich verstehen.«
    Er raufte sich die Haare, rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf, als könnte er auf diese Weise Ordnung darin schaffen.
    Ich verstehe dich. Du bist nicht allein, hörst du? Wir sitzen buchstäblich im selben Boot. Ich kann auch nicht handeln, wie ich will, kann nicht sprechen. Ich bin ebenso ausgeliefert.
    »Es tut gut, das noch gesagt zu haben.«
    Ich weiß nicht, ob er diesen Satz zu sich selbst sagte oder zu mir. Doch ich war auch froh, dass er es gesagt hatte. Es setzte auch mein Dasein in ein neues Licht, denn bisher war ich nicht davon ausgegangen, dass es auch Menschen gab, die sich in ihrem Innersten so einsam fühlten, wie ich es manchmal tat. In mir wuchs das Gefühl, in Mortimer Wright eine verwandte Seele gefunden zu haben.
    Wir schwiegen in die Dunkelheit und hingen unseren Gedanken nach. Erst als der Morgen bereits dämmerte, erhob sich Mister Wright. Er nahm mich unter den Arm und setzte mich vor Lili und Leos Kabinentür ab.
    »Danke, Bär«, sagte er, und ich sah ihm nach, wie er den Gang entlangging, ein wenig taumelnd, ein wenig müde. Allein.
    Die Kapelle spielte einen Tusch und die Passagiere erhoben sich von ihren Plätzen. Es war kurz vor zwölf. Silvester.
    In den vergangenen zwei Jahren hatte ich festgestellt, dass es Brauch war, eine Woche

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