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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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über die Eintracht und das Verständnis, das zwischen ihnen herrschte. Es sind diese Momente, die einen Bären am glücklichsten machen.
    Niemand, und ich muss zu meiner Schande gestehen, auch ich nicht, vermisste Mortimer Wright im Verlauf dieser Nacht. Ich dachte über ihn nach, doch nach dem, was er gesagt hatte, wunderte es mich nicht, dass er sich entschied, die Neujahrsnacht ohne Augusta zu begehen. Emily und Augusta vergaßen ihn, kaum, dass sie seine Tiefgründigkeit beschlossen hatten, und gaben sich dem Fest hin. Erst als sie am nächsten Morgen zum Brunch zusammenkamen – früher schafften sie es nicht aus den Kojen – und in großen Mengen Kaffee zu sich nahmen, fragte Leo:
    »Wo ist eigentlich Mister Wright?«
    »Er wird sich sicher ein wenig ausschlafen, Schatz«, sagte Emily und rieb sich müde die Augen.
    Beim Fünf-Uhr-Tee war er immer noch nicht aufgetaucht.
    »Mum, darf ich bei Mister Wright klopfen und ihm ein gutes neues Jahr wünschen?«
    »Nein, Liebes. Er möchte sicher nicht gestört werden«, sagte Emily bestimmt, aber auf ihrer Stirn zeichnete sich eine Sorgenfalte ab.
    Die gute Emily brauchte sich später keine Vorwürfe machen. Auch wenn sie schon vor dem Frühstück in seine Kabine eingedrungen wären, hätten sie Mortimer Wright nicht mehr retten können. Er war bereits in der Nacht ins Meer gesprungen. Heimlich, leise hatte er sich das Leben genommen.
    »Vermutlich ist er von Achtern gesprungen«, sagte der Erste Offizier. »Das tun die meisten.«
    Augusta wurde blass. Lili presste mich an die Brust. Das Mädchen war starr vor Schreck, vor Unverständnis, vor Angst.
    Zu Victor gebeugt fuhr der Offizier jetzt so leise fort, dass nur noch meine scharfen Bärenohren es hören konnten:
    »Dann erwischt sie die Schraube, ehe sie ertrinken können. Geht am schnellsten.«
    Emily hielt noch immer den Zettel in der zitternden Hand, den Lili auf Mister Wrights Kopfkissen gefunden und uns allen mit sorgloser Stimme vorgetragen hatte:
    »Es ist, als könnte ich nicht sprechen, nicht handeln, nichts tun …«
    Lili stockte. Sie begriff, dass dies kein freundlicher Gruß an gute Freunde war. Langsamer fuhr sie fort:
    »Die Welt stürzt auf mich ein und ich bin ihr schutzlos ausgeliefert. Ich muss mich retten. Niemand wird mich vermissen.«
    Nein. Das hast du ihnen nicht angetan. Das darfst du nicht. DAS habe ich nicht gemeint, als ich sagte, du solltest dich befreien!
    Mit großen Augen hatte Lili vom einen zum anderen geblickt. Sie hatte ihre Mum angesehen, ihren Daddy, ihren Bruder, und nur langsam schien allen ins Bewusstsein zu dringen, was diese Botschaft bedeutete. Lili war verstört.
    »Mum, was heißt das?«, fragte sie. Ich spürte, wie ihr kleines Herz klopfte, wie eine Dampfmaschine. Immer schneller, immer lauter.
    »Was heißt das, ›er will sich retten‹? Was hat er gemacht?«
    »Weißt du, Kleines«, sagte Victor und zog mich und seine Tochter fest an sich. »Er wollte wohl lieber alleine reisen.«
    »Nein!«, rief sie und machte sich los. »Ich habe ihm doch noch kein gutes neues Jahr gewünscht. Wieso ist er nicht mehr hier?«
    Schweigen breitete sich aus, so schwer und dicht und schmerzvoll, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte, und keiner wollte es brechen. Nicht einmal Augusta.
    Noch einmal überdachte ich Mortimer Wrights Worte. Er hatte es mir bereits anvertraut, doch ich hatte nicht geahnt, dass seine Kraft erschöpft war. Er wollte nicht mehr kämpfen.
    Nicht sprechen, nicht handeln, nichts tun, schutzlos.
    Mortimer Wright hatte das Gefühl benannt, das mein Leben bestimmte. Er hatte es aufgeschrieben und sich dann das Leben genommen. Er war ins Meer gesprungen, weil er die innere Einsamkeit nicht aushielt. Eine Einsamkeit, die mir für immer zugedacht ist.
    Hatte mein Credo bei Alice noch »Zuhören und Trösten« gelautet, könnte man die Jahre bei den Browns wohl unter der Überschrift »Leben lernen« fassen, und damit meine ich nicht »Leben wie die Menschen«, sondern »Leben mit den Menschen«. Wo da der Unterschied liegt? Das ist sehr einfach: Ich musste nicht ihre Fehler machen, aber mit ihren Fehlern leben.
    Auch heute kann ich kaum daran denken, ohne wieder diese Ohnmacht zu verspüren, die mich damals überkam. Er war nicht allein gewesen. Ich war nicht allein gewesen. Doch wir hatten einander nicht rechtzeitig erkannt.
    An diesem Tag verstand ich einen weiteren gravierenden Unterschied zwischen Bär und Mensch: Der Mensch flieht, der Bär lernt.
    Der Rest

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