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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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nach dem Fest der Liebe ein Feuerwerk zu entzünden, Champagnerflaschen zu öffnen, sich um den Hals zu fallen und ein gutes neues Jahr zu wünschen. Bald würde also auch dieses Jahr enden und ein neues beginnen. Schade, ich hatte mich gerade dran gewöhnt. Auf dieser Welt schien nichts von Dauer. Auch Jahre durften nicht ewig bleiben.
    Manche der Gäste ließen sich ihre Mäntel bringen und gingen an Deck, doch wir blieben im Restaurant. Augusta bat darum, sie vertrug die kalte Nachtluft nicht so gut. Ausnahmsweise war ich mit ihr einer Meinung, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was es dort draußen zu sehen geben könnte. Wir hatten schon seit gestern kein Land mehr gesehen, nicht ein Stückchen, und nun, in der Nacht, waren Meer und Himmel von derselben unergründlichen schwarzen Farbe, die wenig Hoffnung verhieß. Der Mond, der noch in der Nacht zuvor wie ein Ei am Himmel gehangen hatte, war von einer dicken Wolkenschicht verdeckt. Aber die Kinder wurden ungeduldig, und schließlich erlaubte Emily, dass sie in Begleitung von James nach draußen gingen, um das Feuerwerk anzusehen.
    Ich blieb bei den Erwachsenen, wahrscheinlich, weil ich nicht entsprechend gekleidet war, mein Regenmantel war in der Kabine geblieben, und Lili hatte mir stattdessen zur Feier des Tages eine weiße Schleife um den Hals gebunden. Von meinem Platz auf Lilis Stuhl konnte ich nur knapp über die Tischkante sehen, also keine Gesichter ausmachen, aber ich sah wohl, dass sich nur drei Paar Hände aus der Etagère mit Obst bedienten.
    »Wo ist denn der liebe Mister Wright?«, fragte Augusta.
    »Er wird wohl nach draußen gegangen sein«, sagte Emily. »Vielleicht mag er das Feuerwerk. Männer sind da ja ein wenig anders …«
    Ich hörte sie kichern. Der Champagner hatte ihre Migräne vertrieben, was ihre Laune eindeutig steigerte.
    »Er war beim Essen so still«, sagte sie dann ernster. »Ich glaube, er hat Kummer.«
    »Aber aus ihm ist ja nichts herauszubekommen«, rief Augusta aus. »Wie habe ich auf ihn eingeredet! Aber er sagt ja nichts!«
    Kein Wunder. Du lässt ja niemanden zu Wort kommen. Außerdem wärst du die letzte Person, der er sich anvertrauen würde  …
    »Ich finde ihn sehr sympathisch«, erwiderte Emily. »Er hat so etwas … Tiefgründiges.«
    »Hört, hört«, sagte Victor.
    Ich war sicher, dass er grinste. Und ich war sicher, dass Emily die Augen verdrehte. So war es immer.
    »Vielleicht hat er eine Krankheit«, mutmaßte Augusta Hobhouse weiter. »Ich finde, er sieht irgendwie, nun ja, schwindsüchtig aus.«
    »Ach, nein …«, sagte Emily. Ich hörte wie Victor kicherte.
    Zwar zielten Augusta Hobhouses Mutmaßungen in die falsche Richtung, doch dank ihrer Beobachtungsgabe hatte sie zumindest festgestellt, dass mit Mister Wright etwas nicht in Ordnung war.
    Beim Abendessen war er mir so vorgekommen, als hätte ich unsere nächtliche Begegnung nur geträumt. Er sah mich nicht an, ja, er sah gar niemanden an. Seine feingliedrigen Finger krallten sich um Messer und Gabel. Er hielt das Gesicht gesenkt, wenn er aß, und öffnete den Mund nur, um einen winzigen Happen darin verschwinden zu lassen. Wurde er angesprochen, sah er jedes Mal so überrascht aus, als hätte er gar nicht bemerkt, dass außer ihm noch andere Menschen am Tisch saßen. Nur Lili gelang es manchmal, ihm ein kleines Lächeln zu entlocken.
    Als Emily und Augusta zum wiederholten Male das fehlende Frauenwahlrecht beklagten und darüber in eine Erörterung über Ungerechtigkeit im Allgemeinen, Männer und Frauen sowie Kindererziehung (Mrs Hobhouse war kinderlos) abschweiften, hörte ich, wie Lili ihm altklug zuflüsterte:
    »Ich finde das Leben sehr kompliziert. Finden Sie es nicht auch merkwürdig, Mister Wright?«
    »Doch, da haben Sie wahrlich recht, Fräulein Lili«, antwortete er daraufhin. »Ich finde es sogar höchst merkwürdig.« Er schwieg und lächelte gequält.
    In meinen Ohren klangen seine Worte von der vergangenen Nacht, und mein Herz wurde mir schwer. Mortimer Wright teilte niemandem mit, wie er sich fühlte, oder besser gesagt tat er es erst, als es bereits zu spät war.
    1924. Das neue Jahr begann mit Tanz und Fröhlichkeit. Unzählige Male wurden die Gläser erhoben, ein Toast nach dem anderen wurde ausgebracht und die Leute wurden zunehmend lustiger.
    Es war eine entzückende Nacht. Ich blieb auf Lilis Stuhl sitzen und sah dem Treiben zu. Ich freute mich über die gute Laune meiner Familie, über das Strahlen auf ihren Gesichtern,

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