Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
der Überfahrt ging still und ereignislos vonstatten, überschattet von dem schrecklichen Erlebnis am Neujahrsmorgen. Am fünften Tag erreichten wir New York.
Und, was soll ich sagen? Dass New York für mich keine Enttäuschung wurde, verdanke ich erstens der Tatsache, dass ich keinerlei Erwartungen hegte, und zweitens der Bekanntschaft mit Grandpa Gregory.
Was interessierten mich Städte? Bath, London, New York City – ich konnte keine Unterschiede erkennen. Straßen gab es allenthalben, Häuser, Automobile, Menschen, Pferdefuhrwerke. Regen und Sonne. Lärm und Gestank. In der einen gab es davon mehr, in der anderen weniger.
»Museen in Mengen«, hatte Lili erklärt, »Hochhäuser, sogenannte Wolkenkratzer. Flatiron Building und Woolworth Building. Die Brooklyn Bridge und der Hudson River. Und vor allem die Freiheitsstatue. Es gibt so viel zu sehen!«
Hochhäuser? Hudson River? Brooklyn Bridge? Ich kannte Big Ben, das Parlament und die Themse. Ich kannte die Tower Bridge. So leicht war ich nicht zu beeindrucken. Ich war eben ein Bär. Für mich waren die Menschen in den Häusern wichtiger als die Bauwerke, die sie umgaben.
Doch ich gebe zu: Die Freiheitsstatue beeindruckte mich schon.
Am Morgen unserer Ankunft standen wir dicht gedrängt an der Reling, um die Ankunft in Amerika keinesfalls zu verpassen. Der Himmel war klar, die Luft kalt und der Wind schneidend, doch die Passagiere harrten aus. Die Kleider der Damen flatterten, so mancher Nerz wurde eng um den Hals geschlungen und so mancher Hut musste festgehalten werden.
Als die Skyline von Manhattan sich schon vom Horizont abhob, türmte sich auf einer kleinen Insel zuvor plötzlich eine riesenhafte Frau auf. Grün und mächtig, erhaben und stolz, reckte sie in der rechten Hand eine Fackel gen Himmel. Das Kinn erhoben, der Blick entschlossen.
Für mich hat sich dieser Anblick auf immer mit meinen Gedanken über Freiheit verbunden. Ich würde durchhalten. Innerlich nahm ich ihre Haltung an. Es machte nichts, dass es niemand sah.
Wir blieben fast vier Monate.
Das Haus von Victors Onkel Maximilian war groß genug für alle, das war ungefähr das Erste, was er uns mitteilte, als er uns in seinem schwarzen Automobil am Hafen abholte. Aufrecht, mit glänzendem Zylinder auf dem Kopf, einen schwarzen Gehstock in der rechten Hand schwingend, stand er hinter der Zollabfertigung und nahm uns in Empfang. Sein Mantel spannte vor dem Bauch, doch er streckte ihn stolz vor, als trüge er dort seinen Wohlstand spazieren. Denn Wohlstand war ihm das Liebste.
Er hatte von allem im Überfluss: Platz, Geld, Personal, Drinks (dabei zwinkerte er Victor viel sagend zu), Spaß (dabei zwinkerte er noch einmal) und Verbindungen – nur Zeit hatte er keine.
»Time is money «, pflegte er zu sagen. »And money, you can’t buy.«
Mit diesen Worten, deren Vokale er auf eine uns unbekannte Weise in die Breite und in die Länge zog, stürmte er morgens aus dem Haus in Brooklyn Heights, in dem wir residierten. Anders kann man es nicht nennen. Das Haus war kein einfaches Haus, und auch wenn wir Großzügigkeit durchaus gewohnt waren, ließ sich nicht leugnen, dass dies eine Villa war – im viktorianischen Stil gebaut. Das sagte jedenfalls Emily zwischen zwei Kieksern der Wonne. Ich habe ja keine Ahnung von Architektur.
Max war Bauunternehmer, stattlich und eigentlich, glaube ich, ganz freundlich, aber er war ein Angeber, und das konnte keiner von uns recht gut leiden. Max’ Frau Frances war in erster Linie gut frisiert, ansonsten jedoch eher langweilig. Ein ganz anderes Kaliber als Augusta Hobhouse, was ich zunächst einmal als erholsam empfand. Schüchtern regierte sie das Hauspersonal, das zu meiner Überraschung bunter war als bei uns. Ich hatte noch nie Menschen mit so dunkler Haut gesehen. Ihr Sohn Christopher kam im Temperament eher nach seiner Mutter, doch Lili und Leo brachten ihm recht schnell bei, wie man Unsinn macht, was mich freute und Emily ärgerte.
Christopher hatte ein ganzes Zimmer voll Spielsachen. Mich bedachte er lediglich mit einem abschätzigen Blick, dann führte er Lili und Leo einen Teddy vor, der ungefähr das Vierfache meiner Körpergröße maß.
»Das ist mein Bär«, sagte er und sah die beiden herausfordernd an.
Lasst euch von dem Aufschneider nicht beeindrucken! Die Liebe habe nur ich allein!
»Na und?«, fragte Lili.
»Er ist größer, und er ist aus Amerikas größter Teddy-Fabrik«, sagte er stolz.
»Na und?«, fragte sie wieder. »Unserer
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