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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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diesem Augenblick zum ersten Mal, nicht sprechen zu können, dass von mir keine Antwort und keine Meinung erwartet wurden und dass ich mich ganz nach Belieben meinen schlechten Gedanken über unsere Tischgesellschaft hingeben konnte, ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Gelegentlich kommt mir jetzt der Verdacht, dass ewiges Alleinsein mit sich selbst sarkastisch machen könnte. Aber dann denke ich: Na und?
    Mortimer Wright, der augenscheinlich eine Vorliebe für Rosenkohl hatte – er nahm sich schon zum dritten Mal nach, sein Perlhuhn hatte er jedoch noch nicht angerührt –, war mir wesentlich lieber. Er blieb still und bescheiden, antwortete leise, wenn man ihm eine Frage stellte, begann aber kein Gespräch von sich aus.
    Was ist los mit dir? Sahen die anderen denn nicht, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte? Ich hatte zwar noch nie Rosenkohl gegessen, aber ich wusste, was die Kinder davon hielten, und konnte nicht glauben, dass jemand, der glücklich und zufrieden war, freiwillig drei Mal Rosenkohl nahm und ein Perlhuhn verschmähte.
    Ich wünschte, ich hätte mich getäuscht.
    Augusta Hobhouse wurden wir in den kommenden vier Tagen nicht mehr los. Das heißt, Emily wurde sie nicht mehr los. Doch ich glaube, sie genoss die Gesellschaft dieser Frau auch ein wenig. Die beiden schlenderten gemeinsam durch das Schiff, machten Bekanntschaft mit anderen Damen der Gesellschaft, spielten hier und da eine Partie Bridge und gaben sich im Großen und Ganzen dem Müßiggang hin.
    Lili und ich verbrachten den zweiten Tag der Überfahrt mit Seekrankheit. Ich wusste erst gar nicht, was mit ihr los war, als sie plötzlich grau im Gesicht wurde. Erst dachten wir, sie hätte das Essen nicht vertragen, vielleicht auch die Eisbombe, die es zum Dessert gegeben hatte, doch es stellte sich heraus, dass es am Wellengang lag. Unter den schrecklichsten Geräuschen übergab sie sich, und ich war der festen Überzeugung, sie würde sterben. Sie wurde immer bleicher, bald war sie kreideweiß.
    Ich wusste damals noch nicht, wie Menschen sterben; wie es aussieht, wenn das Leben langsam aus ihnen weicht und nur noch ihre Augen und ihr Mund zarte Regung zeigen. Ich kannte die Stille vor dem Tod noch nicht.
    Ich dachte, dass ein Mensch, der solche Geräusche machte, auf keinen Fall überleben könnte. Wenn auf unseren Expeditionen zu Hause ein Entdecker mal wieder von einem Löwen gebissen oder von einem Eingeborenen malträtiert wurde, wurde ungefähr in dieser Lautstärke gestorben.
    Angst stieg in mir auf.
    Kleine, liebe Lili. In ihrem weißen Nachthemd sah sie noch verletzlicher aus. Ihr Haar klebte in Strähnen an der Stirn, und Tränen der Erschöpfung liefen über ihr Gesicht.
    Lili, du darfst nicht sterben. Ich tröste dich! Ich bin bei dir.
    Vielleicht half es, dass ich es wieder und wieder dachte. In den Pausen, in denen das kleine Geschöpf nicht von fürchterlichen Krämpfen geschüttelt wurde, drückte sie mich fest an sich.
    Im Halbschlaf lag sie da, dämmerte vor sich hin und fuhr unablässig über meinen Bauch. Immer wieder bewegte sich ihr kleiner Daumen über mein Fell, wie eine kleine Maschine rieb sie stundenlang über dieselbe Stelle.
    Sie ist noch da, diese Stelle, ich nenne sie den Trostpunkt. Nicht von diesen paar Stunden Seekrankheit, nein, sondern von den vielen Kinderdaumen, die sich alle diesen Punkt auf meinem Bauch suchten, wenn es ihnen nicht gut ging, wenn ihnen Krankheit oder Angst in die Glieder kroch, oder wenn sie einfach nur müde waren und einschlafen wollten. Aber Lili war die Erste in der Reihe, und das Reiben war mir fremd und vertraut zugleich. In jedem Fall aber fühlte es sich gut an, denn ich merkte, ich spendete Trost.
    Nachdem wir einige schreckliche Stunden in der Kabine verbracht hatten, während derer Leo unablässig schimpfte: »Sie soll aufhören zu kotzen, es stinkt«, beschloss Victor, dass es das Beste sei, wenn Lili ein wenig Zwieback essen würde und dann an die frische Luft kam, das hätte noch niemandem geschadet.
    James, der sich um das Leeren des Eimers gekümmert hatte, war dankbar, Lili nach draußen begleiten zu können. Er war so grün, dass er womöglich bald selbst angefangen hätte, die Fische zu füttern.
    Sie zog erst sich an, dann mich, dann schlichen wir an Deck. Dort standen wir an die Reling geklammert, Wind und Wellen trotzend. Es war herrlich, und jedenfalls mir war kein bisschen übel.
    Lily ließ sich in einen Deckchair sinken, wickelte die Wolldecken um

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