Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
Vom Netzwerk:
Sprechweise nuschelte er mich an:
    »Und du, Bär? Ist ihnen nichts Besseres eingefallen, als dich Puddly zu nennen, he? Kann mir keiner erzählen, dass man mit so einem Namen berühmt wird.«
    Wenn du wüsstest, wie recht du hast!
    Er schlurfte auf unsicheren Beinen zum Regal herüber. Seine knorrige Hand umschloss mein rechtes Bein, und er zog mich herunter. Er pausierte einen Augenblick, versuchte sich aufzurichten und hob den Kopf so weit es ging. Dann nahm er Kurs auf seinen Lesesessel.
    »Aber wozu auch berühmt werden?«, fuhr er fort und fiel mit einem lauten Seufzen in die Polster. »Ich hätte so oft in meinem Leben berühmt werden können. Und hab dann doch im richtigen Moment den Mund gehalten, weißt du. Darauf kommt es nämlich an. Im richtigen Moment die Klappe halten, verstehst du?«
    Wem sagst du das?
    »Aber wem sag ich das? Du gefällst mir, Kleiner. Hast das Herz am rechten Fleck. Gibst keine Widerworte. Lässt Grandpa Greg mal ausreden. Die anderen denken, ich hätte sie nicht alle.«
    Ich schwieg gespannt. Er holte rasselnd Atem und lachte trocken.
    »Gut so. Dann lassen sie mich wenigstens in Ruhe.«
    Nach einer langen Pause, die sich anfühlte wie Stunden, aber wahrscheinlich waren es nur ein paar Minuten, fuhr er plötzlich fort:
    »Damals zum Beispiel, ’83, als wir endlich diese verdammte Brücke fertig gebaut hatten. Da hätte ich berühmt werden können. Die größte Brücke der Welt war das damals. Ohne mich wäre aus der Brooklyn Bridge nie was geworden. Ganz ohne schlaue Köpfe geht’s eben doch nicht. Roebling, der alte Haudegen, ich mochte ihn, auch wenn er aus Deutschland kam. Der hatte Visionen. Die Brücke war sein Traum. Aber leider hat sie ihn das Leben gekostet. So schnell kann’s gehen: Fuß ab, tot. Sein Sohn, Washington, sollte dann die Arbeiten zu Ende führen. Aber der war ja auch nicht viel stabiler als sein alter Herr. Wenn ich nicht gewesen wäre … Na ja. Was hatten die Leute für eine Angst, diese Brücke zu überqueren! Keinen Fuß wollten sie daraufsetzen. Kann man ihnen ja nicht übel nehmen, so viele Leute, wie bei den Bauarbeiten gestorben sind. Da ist mir zum Glück die Sache mit dem Zirkus eingefallen …«
    Er räusperte sich, hustete und schwieg, während er versunken aus dem Fenster sah. Die Brücke war von hier aus gut zu erkennen. Sie führte nach Manhattan, die Insel der Hochhäuser. Und dort, das hatte selbst ich Stubenhocker begriffen, spielte sich das wahre Leben ab. Hoch über dem East River spannten sich die dicken Drahtseile. In Sandstein und Granit thronten die beiden Pfeiler wie riesige Tore im Wasser. Und die hatte grandpa Greg gebaut?
    Erzähl weiter! Was war mit dem Zirkus?
    »Wir haben die Brücke eröffnet und dann kam niemand. Sie sind einfach nicht rübergegangen. Der Bürgermeister hat überall verkündet: ›Diese Brücke hält zwanzig Elefanten aus!‹, aber es hat nicht geholfen. Ich wusste, dass er recht hatte. Hundert Elefanten hätte die Brücke ausgehalten. Ich bin Ingenieur, ich weiß so etwas. Darum dachte ich: Das können wir doch beweisen. Dann schicken wir eben zwanzig Elefanten drüber. Wenn sie es dann noch immer nicht glauben … Und dann ist der Zirkus mit all seinen Tieren gekommen. Elefanten, aber auch Rhinozerosse, Pferde und alles was Beine hatte, inklusive siamesischer Zwillinge, einer Meerjungfrau und einer dreiköpfigen Schlange. In einer langen Parade sind sie über die Brücke marschiert. Als sie die Mitte erreichten, sind die Elefanten Seil gesprungen. Mit den Clowns auf dem Rücken. Dazu hat die Blaskapelle gespielt. Diesen Marsch. Sie haben diesen Marsch gespielt. Wie heißt er noch gleich …«
    Er summte eine Marschmelodie vor sich hin.
    »Wie heißt noch gleich dieser Zirkusmarsch?«, fragte er in die Stille der Bibliothek.
    Ich hätte es ihm nicht sagen können. Von Musik verstand ich genauso wenig wie von Architektur.
    Grandpa Greg verlor sich in Gedanken, er tauchte an diesem Nachmittag auch nicht wieder daraus auf. Doch ich war zufrieden, wie immer, wenn jemand Geschichten erzählte.
    Von diesem Tag an, wünschte ich mir, einmal einen Zirkus zu besuchen. Zu gern hätte ich all diese Kuriositäten gesehen. Doch er blieb mein Leben lang eine Phantasie.
    Kurz musste ich an Mary Jane denken, die jetzt allein in unserem Haus in Bloomsbury war und außer ihrem Gehilfen Rusty niemanden hatte, der ihr zuhörte.
    Wie sich herausstellte, war Grandpa Greg zwar nicht täglich, aber doch häufig zum Erzählen

Weitere Kostenlose Bücher