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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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ist einzigartig und deshalb viel mehr wert, oder Leo?«
    Ihr scharfer Ton war nicht zu überhören. Leo, der kleine Opportunist, ließ den fremden Bär, dem er gerade bewundernd über den flauschigen Kopf strich, fallen wie eine heiße Kartoffel.
    Christopher wusste nichts zu erwidern, solche Schlagfertigkeit war er nicht gewohnt, und ich war zufrieden. Weitere Diskussionen um meine Person gab es nicht. Und doch hatte ich bemerkt, dass aller Loyalität zum Trotz eine Spur Neid in Lilis Stimme gelegen hatte. Kann man es ihr verdenken? Sie war ja noch ein Kind. Und doch glaube ich, dass auch unser Verhältnis an diesem Tag den ersten feinen Haarriss bekam. Nicht, dass ich es in diesem Moment bemerkt hätte. Wir entfremdeten uns langsam, Schritt für Schritt.
    Die Browns entdeckten Amerika und sie taten es ohne mich. Das begann schon auf der Fahrt vom Hafen nach Brooklyn, die ich in der Nachtschwärze von Emilys Handtasche verbrachte, eingezwängt zwischen Riechsalz, Taschentüchern, Pillendöschen und allem anderen, was eine Damenhandtasche ausmachte.
    Einmal angekommen, verließ ich das Haus in Heights nur noch für einen kleinen Spaziergang durch die Straßen Brooklyns. Freudig registrierte ich, dass es auch hier in Brooklyn unweit des East Rivers eine Henry Street gab (und mir schwante, dass die Namensgebung diesmal nichts mit mir zu tun hatte). Links und rechts säumten Brownstone-Häuser die Straße, dazwischen immer wieder extravagante Bauten mit Türmchen und Erkern. Doch ich sah keinen einzigen Wolkenkratzer – stattdessen aber den nahe gelegenen Prospect Park.
    Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich aufgebracht war. Da hatte ich die weite Reise auf mich genommen, mich durch Seekrankheit, Wind und Wetter gequält, einen Seelenverwandten verloren, ehe ich ihn richtig gefunden hatte, und dann ließ man mich schlicht und ergreifend zu Hause. Die Gründe dafür waren fadenscheinig. Ich glaube, dass sich Lili und Leo nach der Episode mit Christopher doch ein bisschen für mich schämten. Wahrscheinlich war ich für die schöne neue Welt einfach nicht gut genug.
    Ich war zu einem Leben hinter den Fenstern zurückgekehrt. Es ist merkwürdig, aber ich hatte schon fast vergessen, wie es war, das Leben nur von ferne zu betrachten und nicht mitten drin zu sein.
    Wie gut, dass es Grandpa Gregory gab. Sonst wäre ich vermutlich vor Langweile eingegangen.
    Während die Familie von Party zu Party, von Tanzabend zu Literaturzirkel zog, verbrachte ich die Tage in God’s own Country überwiegend in der Bibliothek mit Grandpa Greg. Er war mit Abstand der älteste Mensch, den ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte einen krummen Rücken, der es ihm versagte, aufrecht zu stehen, und dazu auffällige O-Beine, die das ihrige taten, um ihn oft bedenklich wackeln zu lassen. Sein weißes Haar stand in alle Richtungen, und er weigerte sich konsequent, es kämmen zu lassen.
    Gregory war Max’ Vater. Er tat so, als sei er zerstreut und machte allen das Leben schwer. Max schämte sich für seinen vergreisten Vater, weshalb Frances, als gottesfürchtige Christin, sich für ihren Mann schämte, was wiederum Christopher unendlich peinlich war. Nur Grandpa Greg schämte sich nicht, sondern machte genau das, worauf er Lust hatte. Er saß stundenlang über dicken alten Folianten, redete halblaut vor sich hin, murmelte unablässig Jahreszahlen und Namen und ließ immer mal wieder geräuschvoll ein Windchen fahren. Hätte man mich gefragt, so hätte ich gesagt, er sei der normalste der ganzen Familie, aber man fragte mich nicht, und daher hielten ihn weiterhin alle für einen alten Spinner.
    Es muss ungefähr Anfang Februar gewesen sein. Ich saß schon fast seit zwei Wochen in einem Regal in der Bibliothek fest, da das Dienstmädchen mich beim Aufräumen dort liegen gelassen hatte.
    Offenbar vermisste mich niemand. Das schmerzte.
    Hatte Lili mich so einfach vergessen? Hatte ihr New York das Hirn derart vernebelt?
    Grandpa Greg beachtete mich nicht. Dies war sein Reich. Bis jetzt hatte er keines der »Bleichgesichter«, wie er den englischen Besuch abfällig nannte, in sein Heiligtum vorgelassen. Nicht einmal Victor, der darauf brannte, die alten Schinken in Augenschein zu nehmen. Grandpa Greg war einst ein großer Ingenieur gewesen, Victor erhoffte sich viel von einer Entdeckungsreise durch seine Bibliothek. Doch Greg lehnte sein Gesuch ab. Umso überraschter war ich, als er plötzlich mit mir sprach. In seiner undeutlichen

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