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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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aufgelegt. Ich freute mich, wenn er kam. Und das war, ehrlich gesagt, auch das einzig Erfreuliche an dieser ganzen verdorbenen New-York-Reise.
    Die Geschichten, die Greg mir im Laufe der Wochen erzählte, waren besser als jeder Ausflug ins Museum. Wenn er mir keine Märchen aufgetischt hatte, musste es in New York von den unglaublichsten Leuten und Orten wimmeln, und damit waren nicht Schriftsteller und Theater gemeint. Von einem Gangster berichtete er, der die ganze Stadt in Angst und Schrecken versetzte.
    »Der olle Italiener«, sagte er, »der macht mir keine Angst. Ich hab ihn gesehen. Hässlich ist er, hässlich wie die Nacht, mit einer langen Narbe quer über dem Gesicht. Ich war auf der Lower Eastside unterwegs. Kein gutes Pflaster, jedenfalls nicht nachts. Aber ich wollte mal wieder Pasta bei Mama Angelica essen, dafür nimmt man einiges in Kauf. Da hockte er. Ein Schlag und Scarface Capone wäre für immer dahin gewesen. Verdammtes Gangsterschwein. Aber Greg schlägt nicht. Hat er nie getan. Greg schlägt niemanden, nicht mal Max, und der hätte es verdient …«
    Aber fluchen konnte Grandpa Greg, das muss man ihm lassen. Wenn Leo das gewusst hätte, wäre er sicher lieber bei ihm in die Schule gegangen als bei Rusty, unserem Gehilfen daheim, der ihm gegen das Entgelt von zwei Pennys nur langweilige Worte wie Gans, Pute und Kuh beigebracht hatte.
    Bald war von Mafia war die Rede, bald von geheimen Speakeasys, wo der Alkohol in Strömen floss, obwohl er verboten war; ein anderes Mal von einer Stadt in der Stadt, wo nur Chinesen lebten, von Filmstudios mit Lampen so groß wie Häuser und magischen Augen, die alles behielten, was sie sahen; dann erzählte er von einer Straße, wo täglich das Geld aus dem Fenster geworfen wurde und anschließend der Bürgersteig damit gepflastert wurde, weil es Dollars im Überfluss gab. Alles schien möglich zu sein in diesem verrückten New York.
    Es war mir egal, ob seine Geschichten stimmten, ich glaube, in jeder steckte ein Funken Wahrheit. In bunten Bildern erstand ein New York vor meinem inneren Auge, das mit Sicherheit viel schillernder war als alles, was man wirklich hätte sehen können. Ich bin froh, dass mir das Woolworth Building erspart blieb. Die Brooklyn Bridge habe ich gesehen, und in meiner Phantasie habe ich gesehen, wie Elefanten darüberliefen und Meerjungfrauen Seil sprangen. Oder war es umgekehrt? Ich weiß es nicht mehr.
    Es ist ja kein Geheimnis, dass der beste Ort für Phantasie der Kopf eines Bären ist. Wer immer mit seinen Gedanken allein ist, lernt sich selbst Geschichten zu erzählen. Und Stoff dafür gibt es wahrlich genug. Denn niemand sonst hat so vielen Herzschlägen gelauscht, so viele Tränen getrocknet, so viel Schönes und Schlimmes gesehen, so viel gewartet, beobachtet und gehört.
    Lili tauchte erst nach über einem Monat auf, und ich war tödlich beleidigt, dass sie mich nicht vorher gesucht hatte.
    »Puddly!«, schrie sie, als Grandpa Greg die Familie schließlich doch ein Mal in die Bibliothek ließ. »Hier bist du!«
    Ich bin nicht schwerhörig.
    »Ich habe dich überall gesucht!«
    Ach ja? Hier nicht.
    »Grandpa. Hat Puddly die ganze Zeit hier gesessen?«
    »Wer? Was? Kenn ich nicht.«
    »Unser Bär! Hat er die ganze Zeit hier gesessen?«, wiederholte Lili und betonte jede Silbe laut und deutlich.
    »Ich bin nicht schwerhörig«, brummte er nur.
    Ich musste fast lachen, obwohl ich doch wütend sein wollte. Aber ich freute mich sehr, Lili wiederzuhaben. Wie sehr ich aber Grandpa Gregs Geschichten genossen hatte, wurde mir klar, als ich merkte, wie Lilis Geschichten über Museen und Gesellschaften mich langweilten.
    »Mum ist ganz außer sich, weißt du, hier in Amerika dürfen die Frauen nämlich schon wählen. Wir haben Augusta Hobhouse wiedergetroffen, die hat es uns erzählt. Du hättest sie mal sehen sollen. Überall brüstet sie sich mit ihrem großen Befreiungsroman. Sogar Mum war skeptisch, sie sagt, Augusta sei der Dekadenz anheimgefallen. Sie will nach Amerika ziehen, kannst du dir das vorstellen? Nur um alle vier Jahre wählen zu gehen? Außerdem hätte sie hier sowieso keinen Spaß. Man darf nämlich keinen Alkohol trinken, ist das nicht verrückt?«, und so plapperte der unbeschwerte Kindermund dahin und ich dachte nur:
    Wenn du wüsstest, was ich weiß!
    Von der Prohibition hatte Grandpa Greg mir längst erzählt, als er aus einem Geheimfach zwischen Schiller und Shakespeare eine Flasche Whiskey holte. Wie sich

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