Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
sollte nicht mehr lange dauern, bis noch gefährlichere Mächte als die Schergen Samir-Unkas Jagd auf viele Menschen machten, die wir für die Guten hielten. Sie kamen zu Tausenden und verbreiteten Angst und Schrecken. Sie wurden »Die Deutschen« genannt. Überall wurde über sie geredet, selbst im Rundfunk sprach man über sie. Wir alle hatten von ihnen gehört. An diesem Tag im April 1940 waren sie auf dem Weg zu uns. Ihre Kanonen ließen bereits die Erde erzittern. Doch das war noch weit entfernt.
»Bonjour, Monsieur Mouton.«
»Na, seid ihr wieder auf Gangsterjagd?«
»Nein«, antwortete Robert ernsthaft. »Wir sind auf der Flucht.«
»Das ist schlimm«, antwortete Maurice ebenso ernst. »Würde euch ein Schluck Zaubertrank helfen?«, fragte er und fuhr sich mit seinen schweren Händen über den mächtigen Bauch. Über dem Bauchnabel fehlte dem rot-weiß karierten Hemd ein Knopf. Ich spürte genau, dass Robert hart gegen die Versuchung kämpfte, seinen kleinen Zeigefinger dort hineinzubohren. Doch er war gut erzogen.
»Das halte ich für eine gute Idee«, erwiderte Robert artig. »Was meinst du, Doudou?«
Ich war natürlich seiner Meinung.
Maurice Mouton verschwand in seiner Brasserie und kam kurz darauf mit einer kleinen Flasche Orangeade zurück.
Robert bedankte sich höflich und nahm auf einem der geflochtenen Stühle Platz. Ich wurde auf den Tisch gelegt, jedoch nicht, ohne dass Robert sich zuvor vergewissert hatte, dass keine Kaffeepfützen oder Croissantkrümel zu sehen waren. Robert trank langsam, in kleinen Schlucken, und sah dabei sehr konzentriert aus.
Wie sehr ich diesen Jungen liebte.
Es war eine andere Art der Zuneigung als die, die ich für Lili empfunden hatte. Unmittelbarer, direkter. Wenn ich heute darüber nachdenke, scheint mir das Leben, das ich in Frankreich kennenlernte, viel natürlicher gewesen zu sein als das englische. Lag es an der Zeit, die den Menschen Formen und Regeln wie einen Stempel in ihr Leben gedrückt hatten? Lag es daran, dass die Bouviers viel ärmer waren als die Browns? Ich weiß es nicht. Ich bin nur ein Beobachter, ein Wanderer durch Länder und Zeiten, Krieg und Frieden.
In seiner stillen Art saß Robert da. Aus der kurzen Hose, die er sommers wie winters trug, staken seine dünnen Jungenbeine hervor, die Knie dunkel vor Schorf und Dreck, die einst weißen Socken hingen grau um seine baumelnden Knöchel und der große Zeh des linken Fußes wuchs inzwischen über die Spitze der Sandale hinaus. Gedankenverloren schob er den Hosenträger hoch, der ihm zum dreißigsten Mal an diesem Tag über die Schulter gerutscht war, und stellte seine Flasche neben mich.
»Hilft Ihr Zaubertrank auch gegen die Deutschen?«, fragte er dann und schaute zu Maurice auf.
»Das hoffe ich sehr, mein Kleiner, sonst werde ich es schwer haben.«
»Dann hoffe ich es auch«, sagte Robert und bedankte sich für die Stärkung.
Wir setzten unseren Streifzug durch das 13. Arrondissement fort. Robert genoss viele Freiheiten. Jeder im Viertel kannte ihn, den kleinen Bouvier vom Gemüseladen. Und nur aus diesem Grund machte sich Nadine, die Hexe, keine Sorgen, wenn wir uns um Häuserecken drückten und über Hofmauern kletterten. Es gab eine unumstößliche Regel, an die sich Robert treu hielt, die lautete: Niemals südlich der Avenue de Tolibac. Doch dorthin zog es uns ohnehin nicht, denn die engsten Straßen und kleinsten Winkel gab es rund um unser Zuhause. Dort wussten wir genau, wo es etwas Spannendes zu sehen gab.
In der Rue Simonet wohnte die alte Dame, die den ganzen Tag am Fenster saß. Sie war gespenstisch, denn sie bewegte sich nie. Ein einziges Mal nur sahen wir, dass sie blinzelte. Das war, als Robert einen Kiesel gegen die Scheibe warf, um zu sehen, ob sie lebendig war.
»Sie ist eine Spionin«, sagte er danach im Brustton der Überzeugung. »Ich weiß es genau. Ihr entgeht nichts. Wahrscheinlich darf sie nie schlafen und hat bestimmt schon längst ein Herz aus Stein.«
Vielleicht hatte sie ein Herz aus Stein. Vielleicht wartete sie aber auch bloß auf Nachricht von der Front. Wer kann das mit Genauigkeit sagen?
In der Rue Samson gab es einen Metzger. Er hatte immer einen hochroten Kopf und die Leute munkelten, er schlüge seine Frau. Seine Schürze war stets blutverschmiert, seine Arme rosig und weich und ein wenig zu fett. Robert war fasziniert von diesem Mann und hatte gleichzeitig fürchterliche Angst vor ihm. Manchmal drückten wir uns nachmittags an einem kleinen Eck
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