Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
dieses Bild dort aufgehängt. Es bedeutete ihm viel.
Nicolas, der ein einfacher Gemüsehändler war und nicht über ein hohes Maß an Bildung verfügte (jedenfalls nicht, wenn man ihn mit Victor vergleicht), hatte dennoch in der Volksschule gut aufgepasst, als es um die Geschichte von Paris ging. Wie alle guten Franzosen liebte er die Stadt an der Seine, sie war sein Zuhause. Er war in Butte aux Cailles geboren, damals, als der Hügel noch grün und unbebaut war. Als die Lehrerin vom Luftfahrtpionier de Rozier und seinem Begleiter d’Arlandes erzählte, die in einem halsbrecherischen Unterfangen den ersten freien Flug in einem Heißluftballon unternommen hatten, war der kleine Nicolas begeistert gewesen. Fasziniert. Er hatte, mit dem Zeigefinger über die Zeilen rutschend, Buchstabe für Buchstabe alles gelesen, was über diese Ballonfahrt geschrieben stand. Das Größte war dabei für ihn, dass der Ballon vor mehr als hundertfünfzig Jahren hier im 13. Arrondissement, irgendwo zwischen der Rue Bobillot und Rue Vandrezanne gelandet war.
Diese Geschichte hatte ihn nie losgelassen. Nicht, als er älter wurde und von anderen großartigen Ereignissen in der Welt hörte, nicht als der Erste Weltkrieg kam, nicht als dieser Hüne von einem Mann, der inzwischen aus ihm geworden war, sich in die zarte Nadine verliebte, und nicht als ihm die Arbeit die Zeit zum Träumen stahl. Als dann der kleine Robert auf die Welt kam, hatte er endlich einen Zuhörer gefunden.
Immer wieder wollte Robert diese Geschichte von seinem Vater hören, und Nicolas erzählte sie unermüdlich. Dazu setzte er sich an das Bett seines Sohnes, nahm die kleine Jungenhand in seine große, von der Arbeit ganz rissige Pranke und begann:
»Als ich ein kleiner Junge war, lernte ich in der Schule lesen, schreiben und rechnen. Und eines Tages erzählte die Lehrerin uns eine abenteuerliche Geschichte, die sich vor langer Zeit hier bei uns im Quartier zugetragen hatte …«
Manchmal kamen Details dazu, manchmal fielen Details weg, doch der letzte Satz lautete immer gleich: »Ich wünschte, wir könnten eine Zeitreise machen.«
Wir konnten, wenn auch ohne Nicolas.
Robert und ich schwebten über Paris, kamen manchmal nur mit Ach und Krach um die Spitze des Eiffelturms herum, die im dichten Schneegestöber des kalten Dezembersturms nicht zu sehen war, und spuckten von weit oben in die Seine, ehe wir Kurs auf die Place d’Italie nahmen, um dort zu landen, im Jubelgeschrei der Mengen. Robert und Doudou waren die Himmelsstürmer und Entdecker der Wolken.
Robert wurde dieses Spiels nicht müde, wie er überhaupt selten des Spielens müde wurde.
Am häufigsten begaben wir uns aber in den Kampf gegen Samir-Unka. Unsere unsichtbare Gefährtin Zazie beschützend, zogen wir durch die Straßen und Hinterhöfe unseres Viertels. Wir entfernten uns jedoch nie weit vom Gemüseladen an der Place d’Italie und dem Haus in der Rue Bobillot, wo wir eine kleine Wohnung im dritten Stock bewohnten.
Um das Schwimmbad an der Place Verlaine machte Robert immer einen großen Bogen. Er war inzwischen zwölf, aber gleichwohl überzeugt, dass die zwei runden Fenster in der Mitte der Vorderseite des Backsteinbaus Augen waren, die nur darauf warteten, ihn zu entdecken.
»Ich bin sicher, da drinnen wimmelt es nur so von Rächern, meinst du nicht auch, Doudou?«, flüsterte er mir dann ins Ohr. »Ein Hort des Bösen. Ich weiß gar nicht, warum Maman immer dorthin will!«
Da wir dem Bösen lieber nicht zu nahe kommen wollten, schlichen wir auf die andere Straßenseite. Wir spähten in die Rue de Butte aux Cailles, steuerten zielsicher die Brasserie von Monsieur Mouton an. Er war ein Verbündeter, dort waren wir vorübergehend gut aufgehoben, denn die Hexe hatte selten Zeit, so weit zu laufen, um uns zu suchen.
Unter einer roten Markise standen drei kleine runde Tischchen und ein paar alte Stühle. In der Eingangstür, unter dem Schild Chez Maurice, thronte rahmenfüllend Maurice Mouton persönlich.
»Hallo, kleiner Robert!«, sagte der dicke gemütliche Mann und ließ seine Zigarre auf magische Weise von einem Mundwinkel in den anderen wandern, ohne dabei die Finger zur Hilfe zu nehmen und ohne sich den schwarzen Schnäuzer zu verbrennen. Ich fragte mich jedes Mal, wie er das wohl machte. Vielleicht traf Roberts Verdacht, dass Maurice Mouton einer der guten Zauberer war, wirklich zu. Von ihnen gab es nur sehr wenige, denn Samir-Unkas Leute hatten es vor allem auf sie abgesehen.
Es
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