Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
begraben. So hieß ich nur noch in Alices Erinnerung und in meiner eigenen. Doudou also. Robert hatte mich so genannt, als ich vor sechs Jahren zu ihm nach Paris kam, 1934.
Die zehn Jahre, die zwischen meiner Rückkehr aus Amerika und meiner Ankunft in Paris vergangen waren, hatten aus mir einen bescheideneren und demütigeren Bären gemacht.
Ich hatte gelernt, dass Kinder nicht immer Kinder bleiben, als Lili und Leo, kaum dass wir zurück in England waren, das Interesse an mir verloren. Sie mussten sich wichtigeren, erwachseneren Dingen widmen, und Victor bestand nicht darauf, dass ich weiter am Tisch saß. Ich blieb bei ihnen, im Hause der Browns, doch ich blieb als Zuschauer. Ich bekam einen Platz in der Salonvitrine, und zwischen mir und dem Leben, das ich einst mit ihnen geteilt hatte, lag eine Glastür, die einmal wöchentlich poliert wurde. Als sie 1928 tatsächlich ihre Sachen packten, um nach Amerika zu ziehen, weil für Victor dort gute Geschäfte warteten (er ahnte nichts vom bevorstehenden Börsenkrach), war Leo bereits zum Studium in Oxford und Lili verliebt in einen Schriftsteller namens Evelyn, der es nach langem Hin und Her jedoch vorzog, eine Frau mit dem selben Vornamen zu heiraten, daher folgte Lili ihren Eltern in die Staaten.
Das Packen zog sich über Wochen. Emily sortierte und ordnete und ließ schließlich von James eine Kiste anlegen, in der Sachen gesammelt wurden, die zu verschenken waren. Mit einem mitleidigen Blick hatte James mich aus der Vitrine genommen und gefragt:
»Puddly auch, Ma’am?«
»Herrgott ja, was sollen wir noch damit? Lili hat wahrhaft andere Sorgen, und irgendwelche armen Kinder haben sicher Freude daran«, sagte sie in ihrer wohltätigen Art und ahnte nicht, was sie mir damit antat.
James schenkte mich seinem Enkel, Frederic Fairlie, der mich nie besonders mochte, geschweige denn liebte. Er vergaß mich noch im selben Jahr bei einem Ferienaufenthalt an der See in Brighton. Auf der Fahrt dorthin hielt der Zug in Bath. Ich sah den Bahnsteig, der sich überhaupt nicht verändert hatte, es war alles noch wie vor acht Jahren. Es zerriss mich beinahe vor Sehnsucht nach Alice. Wäre es nicht traumhaft gewesen, wenn wir uns hier wiedergefunden hätten?
Ein kleines französisches Mädchen mit wunderhübschen Zöpfen fand mich am Strand, nahm sich meiner an und schmuggelte mich in ihrem Koffer über den Ärmelkanal und weiter bis nach Orléans, wo ich jedoch unter Protestgeheul ihrer überreinlichen Mutter in der Nähe der Jeanne d’Arc ausgesetzt wurde, noch ehe ich wusste, wie die Kleine hieß.
Ich wurde wieder gefunden, wieder verloren, verstaut und verschenkt, doch niemand hängte sein Herz an mich, niemand machte mich zu seinem Vertrauten, und ich wurde mehr und mehr zu einem Gegenstand, den man weiterreichte wie ein seelenloses Ding.
Frankreich schien riesig, ich gab es auf, die Orte zu zählen, die Häuser, in denen ich schlief. Ich bemühte mich nicht mehr, mir Namen zu merken, Gesichter oder Geschichten.
Mein Herz hatte geschlossen.
In diesen Tagen lebte ich von den Erinnerungen an die guten Zeiten. Die Gegenwart rauschte unbeachtet an mir vorüber – bis Robert in mein Leben trat.
Mit ihm ging die Sonne wieder auf. Ich tauchte auf, aus einer sechs Jahre andauernden Starre, aus einer unfreiwilligen Pause im Leben, das für mich doch eigentlich noch recht neu war.
Ich war in einem Gemüseladen in Paris sitzengelassen worden, genauer gesagt auf einem Stapel grüner Salatgurken. Neben mir lag eine kleine Schiefertafel, auf der mit Kreide geschrieben stand: Concombre 25 cts/pièce . Irgendeines dieser namenlosen Kinder mit schmutzigen Fingern und rotzverklebten Nasen hatte lieber ein Bonbon haben wollen als mich, und so wurde ich vor lauter Gezeter wieder einmal vergessen. Es machte mir nichts aus. Schon lange nicht mehr. Ich hatte begriffen, dass ich mich fügen musste. Mein anfänglicher Widerstand, meine haltlosen Versuche, die Herzen der Kinder zu erreichen, hatten mich müde und traurig gemacht. Und dann stand plötzlich ein kleiner, fünfjähriger Junge vor mir, nahm mich am Arm und schleppte mich zur Verkaufstheke, über die er kaum gucken konnte. Robert war ein schmächtiges Kind.
»Bonjour«, sagte er höflich.
»Bonjour, Monsieur«, antwortete der Mann hinter der Theke. »Was darf es heute sein, Monsieur Bouvier? Vielleicht ein Kilo Karotten, die sind heute im Angebot.«
»Nein. Ich nehme lieber diesen Bären.«
»Aha! Es ist mir neu, dass wir
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