Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Monsieur Trinac sagt, er würde den ganzen Tag träumen. Er bekommt ja gar nicht mit, was wirklich passiert!«
Vielleicht war es besser so. Robert war noch glücklich, als der Rest der Welt bereits die Waffen aufeinander richtete.
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, an die sechs Jahre, die Robert und ich in freier Wildbahn verbringen durften, die sechs sonnendurchfluteten und liebeserwärmten Jahre, bevor der Krieg auch uns erreichte, dann spüre ich das Glück schöner Kindertage.
Ich wünsche mir so sehr, dass Robert überlebt hat. Ich wünsche mir, dass er ein langes Leben hatte, dass er vielleicht sogar noch immer lebt, als alter Mann, kaum acht Jahre jünger als ich. Ich wünsche mir, dass er Kinder bekommen und ihnen von diesen Tagen in Paris erzählt hat, dass sie, genau wie ich, fest an Prinzessin Zazie und Samir-Unka geglaubt haben, weil er an sie glaubte. Und dass sie ein wenig vom dem Glück spüren konnten, dass in diesem unbeschwerten Spiel lag.
Für uns änderte sich alles im Sommer 1940.
Nadine hatte recht, Robert sah die Gewitterwolke nicht, die auf Paris zuschwebte. Wenn es an seinem Himmel ein wenig dunkler wurde, suchte er sich einen Flecken, auf den die Sonne schien, und war zufrieden. So einfach war das.
Im Gegensatz zu Robert hatte ich die Wolke zeitig entdeckt. Sie war langsam näher gekommen und immer schwärzer geworden. Die Mienen der Menschen hatten sich verdunkelt, ein Schatten fiel über Paris. Krieg. Ich hatte bemerkt, dass dieses Wort immer häufiger fiel. Häufiger, als mir lieb war.
Ich wusste nicht, wie man sich einen Krieg vorzustellen hatte, wenn ich es genau bedachte, wusste ich nicht einmal genau, was ein Krieg eigentlich war. Welchen Zweck verfolgte er?
Von Alice hatte ich gelernt, dass Krieg Leid und Elend, Trauer und einsame Liebe hinterließ. Die Erinnerung allein reichte aus, um mir zu wünschen, dass diese Gewitterwolke an uns vorüberziehen möge, ohne sich zu entladen.
Ich sah Nicolas’ und Nadines besorgte Gesichter, wenn sie abends vor dem Rundfunkgerät saßen und der Stimme des Kommentators lauschten, und versuchte mir einen Reim auf das zu machen, was ich hörte.
Es gab Krieg. Er hatte längst begonnen. In einem Land namens Deutschland, in dem ich noch nie gewesen war, von dem ich aber viel gehört hatte (Victor schätzte die Philosophen und Schriftsteller dieses Landes, er sagte, es sei eine Nation von Dichtern und Denkern), regierte ein kleiner Mann mit einem großen Plan. Er hatte beschlossen, sich die Welt untertan zu machen, und war deshalb in den Krieg gezogen. Offenbar tat er das aber nicht allein, sondern mit Tausenden Soldaten, und die anderen Länder versuchten, sich mit ebenso vielen Soldaten gegen ihn zu wehren. Auch die Franzosen.
So weit, so schlecht. Auf eine Weise schien mir diese Geschichte verdächtige Ähnlichkeit mit Roberts Samir-Unka-Märchen zu haben. Die Prinzessin passte nicht ganz ins Bild, aber der Rest …
Der gravierende Unterschied war allerdings, dass es sich hierbei nicht um ein Spiel handelte. Es war das wirkliche Leben. Das Leben der Menschen. Und obwohl sie alle nur dieses eine hatten, verwendeten sie es auf eine Sache, die nichts anderes zum Ziel zu haben schien, als Leben zu vernichten.
Ich begriff das einfach nicht.
Je weiter dieser Krieg voranschritt, je mehr Angst und Schrecken ich erlebte, je mehr Zerstörung ich sah, Tod und Leid, je mehr Unbedachtheit ich erlebte und je weniger Toleranz und Mitgefühl, umso größer wurden meine Zweifel an den Menschen. Ich glaube, ich habe sie nie weniger verstanden als in den Zeiten des Krieges.
Bereits im Mai 1940 war abzusehen, dass dieses Gewitter nicht an uns vorüberziehen würde. Die Wolken warfen ihre Schatten voraus, inzwischen sogar bis in Roberts Phantasiewelten.
Es war gespenstisch. Denn obwohl alle ahnten, dass die deutschen Truppen nicht vor den Toren von Paris haltmachen würden, änderte sich am Leben zunächst nur wenig.
Noch gab es alles zu kaufen. Noch hatte der Krieg es nicht bis nach Butte aux Cailles geschafft. Noch war Paris eine freie Stadt, niemand dort wollte sich vorstellen, dass sich das einmal ändern könnte. Die Läden hatten geöffnet, der Verkehr donnerte durch die Stadt wie eh und je, die Bars quollen über, die feinen Herrschaften gingen ihren Vergnügungen nach.
»Die einzige Sorge, die sie haben, ist der Nachschub an Pommery und Kaviar«, sagte Maurice Mouton abfällig, als er wie jeden Morgen kam, um frischen Salat zu kaufen,
Weitere Kostenlose Bücher