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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Tag.
    »Morgen nehmen wir Samir-Unka in die Zange«, sagte er in seiner neuen Kriegsstimme. »Wir werden ihm zeigen, dass unsere Männer kämpfen können.«
    Aus ihm sprach die Stimme des Rundfunks, die Stimme der Erwachsenen, die Stimme der Politik. An die Stelle der aufgeregten Vorfreude war eine Spur von Verbissenheit getreten, die ich mit Argwohn und Unbehagen wahrnahm. Auch wenn der Krieg uns noch nicht erreicht hatte, so hielt er uns doch bereits fest in Händen.
    Wenige Tage später gingen wir erneut zu Madame Denis. Diesmal steuerte Robert ohne den Umweg über die Zauberlaube oder den Bach der steineren Herzen direkt sein Guckloch am Bretterzaun an. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu protestieren.
    Von der Seite der verruchten Mädchen waren Gekicher und Gekreisch zu hören. Sie waren im Hof. Ein leichter Duft nach frischer Wäsche wehte herüber.
    Robert drückte sein rechtes Auge an den Zaun. Wie gebannt saß er am Zaun, unbeweglich und still. Doch plötzlich veränderten sich die Geräusche. Erschrocken fuhr Robert zurück. Er drückte sich mit dem Rücken gegen das Holz und hielt die Luft an, dabei setzte er sich beinahe auf mich. Er war entdeckt worden. Das Gekreisch wurde immer lauter und kam deutlich näher, ich hörte das Scharren von Füßen, die sich auf der anderen Seite der Bretterwand aneinanderdrängten.
    Robert! Lass uns abhauen. Die führen etwas im Schilde!
    Doch Robert, Unschuld und Arglosigkeit in Person, blieb so lange hocken, bis sich der nasse Inhalt eines Zehn-Liter-Eimers von oben über uns ergoss. Er war so überrascht, dass er mit einem Schrei aufsprang, mich an sich raffte und davonstürzte. Er stolperte über einen Brombeerstrauch, der sich in seinen Strümpfen verfing, schlug der Länge nach hin und riss auf der Flucht vor den gefallenen Mädchen und ihren gemeinen Ideen das halbe Gebüsch mit sich. Tropfnass rannte er aus dem Garten auf die Straße. Obwohl ich Wasser abbekommen hatte, was ich überhaupt nicht leiden kann, musste ich innerlich lachen. Roberts aufkeimende Neugier auf das weibliche Geschlecht war mit der ersten kalten Dusche seines Lebens belohnt worden. Doch daran würde er sicher keinen Schaden nehmen. Daran nicht.
    Nass wie er war, traute er sich nicht nach Hause. Wir trieben uns also noch eine Weile in den Straßen herum. Immer häufiger sah man Leute, die damit beschäftigt waren, ihre Autos zu beladen. Monsieur Brendacier, der bei den Bouviers mit Vorliebe Artischocken kaufte, schleppte gerade eine Matratze aus dem Haus in der Rue du Samson, als wir vorbeikamen.
    »Bonjour, Monsieur Brendacier«, sagte Robert und strich sich das feuchte Haar aus dem Gesicht.
    »Bonjour, petit Robert«, antwortete der Mann. »Warst du baden?«
    »Ja«, log Robert. »Wollen Sie verreisen?«
    »So kann man es auch nennen«, sagte Monsieur Brendacier.
    »Mit Ihren Möbeln?«
    »Man weiß ja nie, wie man es antrifft, nicht wahr?«
    Robert schwieg und sah Monsieur Brendacier zu, wie er sich abmühte, die dicke Sprungfedermatratze auf dem Dach des Wagens festzuzurren.
    »Richte deinen Eltern herzliche Grüße aus«, sagte er, als er so weit war. »Und sag ihnen, dass ihre Artischocken immer die besten der Stadt waren.«
    »Wird gemacht«, sagte Robert. »Au revoir!« Und schlenderte weiter.
    Ach Robert. Merkst du denn noch immer nicht, was um dich herum passiert? Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!
    Er merkte es nicht. Und ich dachte zum ersten Mal, dass es nicht schlecht wäre, wenn wir auch bald Ferien von Paris machten und an einen Ort fuhren, wo nicht so bald Deutsch gesprochen würde.
    Wir bogen in die Rue Butte aux Cailles ein, ein wenig trockener inzwischen, ein guter Zeitpunkt, erlaubtes Terrain zu betreten und Maurice einen Besuch abzustatten. In bewährter Hopsmanier bewegten wir uns die Straße hinunter. Zwei Beine – hops – linkes Bein – hops – zwei Beine – hops – rechtes Bein – hops. Erst an der Rinne, die sich wenige Meter von Maurices Bistro über den Bürgersteig zog, hob Robert den Kopf. Dann ging er mit langsamen Schritten weiter, den Blick unverwandt auf das Chez Maurice-Schild gewandt, das leise quietschend im Wind schwang. Vor der Tür blieb er kurz stehen. Den Rest des Weges nach Hause rannte er.
    »Maman«, schrie er noch in der Tür. »Maman! Maurice ist fort!«
    Und niemand fragte, warum seine Schuhe in der Diele nasse Spuren hinterließen.
    An diesem Abend saßen Nicolas und Nadine noch lange beisammen und diskutierten. Sie klangen

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