Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
und mit Nicolas die Lage erörterte.
Und Nicolas nickte nur und sagte: »Wenn es doch nur so bliebe.«
Doch die Zeichen standen auf Sturm, und das war bald nicht mehr zu übersehen. Die Leute wurden unruhig, denn immer mehr Bewohner entschieden sich, die Stadt zu verlassen.
»Den Boches in die Hände fallen? Bei aller Liebe, nein! Schlimm genug, dass unsere Männer an der Front das erleiden müssen. Wir müssen unserem Land auf andere Weise dienen und am Leben bleiben. Vive la France!«, sagten sie, wenn sie ein letztes Mal kamen, um Obst und Gemüse für die Reise zu kaufen. »Leben Sie wohl, Monsieur Bouvier.«
Bald hatten die Lieferanten Schwierigkeiten, die bestellten Waren zu liefern. Die Geschäfte liefen immer schlechter, Nicolas fuhr Nadine unbegründet an und sie schimpfte lauter zurück, als es nötig war.
Ich sah mir das Ganze mit wachsender Sorge an.
Die wenigen Kunden, die stur an ihren Gewohnheiten festhielten, kamen oft mit den neuesten Informationen. Madame Leroc, deren Sohn an der Front war, verfolgte jede Truppenbewegung und sie behielt ihre Angst und ihre Befürchtungen nicht für sich.
»Ich sage es Ihnen, Monsieur Bouvier, das dauert nicht mehr lange. Bald sind wir alle dran. Wir sollten unsere Sachen packen, so lange es noch geht. Mein armer Junge, Gott gebe ihm Kraft, schrieb, die Deutschen seien Bestien, sie mögen Menschenfleisch, verstehen Sie, Monsieur Bouvier. Die Boches kennen keine Gnade …« Sie machte eine ausladende Armbewegung und verließ den Laden unter Wehklagen.
»Au revoir«, sagte Nicolas. Doch sie hörte ihn nicht.
Er sah seine Frau an. Ein Blick, der nichts Gutes verhieß.
Maurice kam nur noch alle drei Tage. Auch bei ihm blieben die Gäste aus, er brauchte kaum noch Salat.
»Vielleicht sollten wir auch zusammenpacken, Nicolas …«, sagte er. »Meine jüdische Großmutter sieht mir doch sogar ein Blinder an.«
Er versuchte zu lachen und rieb sich die große Nase.
»Ich habe kein gutes Gefühl«, fuhr er dann ernsthaft fort und murmelte im Gehen: »Nein, wirklich nicht …«
Und als Robert und ich an diesem Nachmittag zu ihm kamen, war er zu zerstreut, um uns mit Zaubertrank auszuhelfen.
»Salut«, sagte Robert. »Wie geht’s?«
»Gut, gut …«, antwortete Maurice und sah an uns vorbei, die Straße hinunter, als gäbe es dort etwas zu entdecken.
Robert schaute ihn in einer Mischung aus Vorwurf und Beharrlichkeit so lange still an, bis Maurice wortlos eine Limonade vor uns hinstellte. Dann kratzte er sich am Kopf und verschanzte sich hinter seiner Theke.
Zumindest in Teilen behielt Madame Leroc recht. Es dauerte nicht mehr lange, und bald heulten nachts regelmäßig die Sirenen. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, und es war verboten, Licht zu machen.
Die Menschen verschlossen die Fensterläden, und in der Wohnung in der Rue Bobillot war die Luft stickig und heiß. Der Sommer hatte Einzug gehalten, doch niemand wagte es, den lauen Nachtwind hereinzulassen. Flugzeuge donnerten immer häufiger bedrohlich durch die Dunkelheit.
»Sie bringen die Bomben«, erklärte Nicolas und zog Robert schnell vom Fenster weg, als er neugierig hinausschauen wollte.
Die Bomben. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schlimm Bomben waren. Noch nicht.
Als der Fliegeralarm zum ersten Mal ertönte, fuhr Robert aus dem Schlaf hoch und fing völlig verwirrt an zu weinen.
Ich war sofort hellwach.
Halt dich an mich, Robert. Ich bin bei dir.
Schon kam Nadine ins Zimmer gestürzt, wickelte uns in eine Wolldecke und flüsterte:
»Es ist alles gut, chéri , alles ist gut. Sch … sch … sch. Wir müssen nur in den Keller.«
Und dann stolperten wir die Treppen hinunter, Nadine im Schlafrock, Nicolas mit seinem braunen Jackett über dem Pyjama und der kleine Robert, greinend im Halbschlaf. Erschöpft drängten wir uns mit den Nachbarn zusammen, es wurde leise geredet, um sich zu beruhigen, doch bald wusste niemand mehr etwas zu sagen und alle lauschten auf das Dröhnen der herannahenden Flugzeuge. In dieser Nacht kamen sie nicht bis zu uns.
Bald gehörte der Alarm in die Geräuschkulisse der Nacht wie andernorts das Zirpen der Grillen. Wir gewöhnten uns fast daran. Die Sirene ertönte, das durchdringende Heulen riss die Menschen aus ihrem leichten Schlaf, sie schlüpften in die Kleidung, die sie eigens bereitgelegt hatten, und begaben sich in den vermeintlichen Schutz des Kellers. Es ist erstaunlich, wie schnell sie diese Ausnahmezustände akzeptiert und sich darin eingerichtet
Weitere Kostenlose Bücher