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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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stellvertretend für alle meine französischen Freunde den Krieg.
    Es war zu spät. Ich war entdeckt. Ich war gefunden. Ich war dem Feind in die Hände gefallen. Ich konnte nicht umhin, für das Aufblitzen einer Sekunde zu denken: Und das ist deine Schuld, Robert. Doch dieser Gedanke verschwand so schnell, wie er gekommen war. Die Lampe ging wieder an, der Lichtkegel erfasste mich und die Feindeshände griffen nach mir und hoben mich auf. Sie waren warm und fest. Kleiner als die von Nicolas und doch kräftig.
    Die Lampe blendete mir unerbittlich ins Gesicht.
    »Na, wen haben wir denn da?«, sagte der Mann. »Du hast es wohl nicht rechtzeitig in den Koffer geschafft, was?«
    Wie bitte? Soll das ein Witz sein?
    Die Stimme lachte trocken auf, das Licht erlosch, und ehe ich noch einmal tief Luft holen konnte, wurde ich in die beklemmende Enge unter der Uniformjacke dieses Fritz gedrückt. Eingezwängt zwischen Jacke und Hemd atmete ich den Geruch dieses Fremden. Ich hörte sein Herz schlagen, kräftig und ohne die geringste Unsicherheit. Ich war angewidert. Ich hatte Angst. Ich wäre am liebsten von mir aus gestorben, bevor dieser Deutsche mir etwas antun konnte.
    »Hier ist nichts«, rief er dann seinen Kameraden zu, und seine Stimme dröhnte an meinem Ohr. »Der Vogel ist ausgeflogen.«
    Still und ohne Zögern hatte er mich an sich genommen. Paris war besetzt. Der Laden der Bouviers war annektiert. Und ich war in Kriegsgefangenschaft.
    Mein neuer Besitzer hieß Friedrich Ballhaus. Er war Gefreiter der deutschen Wehrmacht, und ich hasste ihn, so gut ich konnte. Das tat ich im muffigen Dunkel seines Rucksacks, in den er mich gesteckt hatte und in dem ich blieb, bis er mich im März 1941 wieder hervorholte, als er einen Bleistift suchte.
    Neun Monate waren vergangen, seit er mich im Laden der Bouviers geklaut hatte. Neun Monate, in denen ich viel Zeit zum Nachdenken hatte. Zu viel. Während um mich herum Krieg war, passierte in meinem Leben nichts.
    Ich verbrachte die Stunden mit der quälenden Frage, ob die Bouviers es geschafft hatten, Paris rechtzeitig zu verlassen, bevor Friedrich und die anderen Boches gekommen waren. Ich fragte mich, ob Marie ihr Kind auf der Flucht bekommen hatte, ob es Robert und Nicolas gemeinsam gelungen war, den Drachen im Burgund zu besiegen. Inzwischen wusste ich, dass neben Frankreich und Deutschland auch die Engländer am Krieg beteiligt waren. Was war mit Alice, die jetzt bereits den zweiten Krieg erlebte, wo ihr doch schon der erste alles genommen hatte? Wie es ihr wohl ergangen war? Und die Browns? Ob sie drüben in New York von diesem Krieg gehört hatten, der hier so viele Menschenleben durcheinanderwarf? Und der wütende Leo? Er war doch inzwischen auch in dem Alter, in dem junge Männer in den Krieg ziehen mussten, Kanonenfutter, wie Nadine es genannt hatte. Was war wohl aus ihm geworden? Was hatte der Krieg mit den Menschen gemacht, die ich liebte?
    Ich würde es nie erfahren. Dies war die einzige Gewissheit, die ich hatte, und sie erleichterte mir meine Gefangenschaft nicht.
    Zwar gewöhnte ich mich an die Einsamkeit – hatte ich eine Wahl? –, doch es war nicht die ruhige Einsamkeit eines Dachbodens, nicht die stille Einsamkeit einer Büchervitrine. Es war eine Einsamkeit, in der beständig Unruhe mitschwang, denn ich konnte genau hören, was um mich herum vor sich ging. Und was ich hörte, gefiel mir nicht.
    Ich lernte, die Gebräuche in der Heeresunterkunft an den Geräuschen zu erkennen, die Trillerpfeife zum Wecken, Melden, Antreten, Stubenappell, Zapfenstreich. Ich lernte die Befehle zu unterscheiden, ebenso wie die Stimmen jener, die sie in einer Lautstärke brüllten, die die Vermutung nahe legte, dass alle Deutschen schwerhörig waren. Dieser Ton, der jegliche Vertrautheit, jegliche Menschlichkeit im Keim erstickte und die Soldaten dazu zwang, wie Maschinen zu funktionieren, war mir so fremd und zuwider, dass mir allemal lieber war, unbeachtet im Dunkeln zu sitzen, als mir dieses freudlose, kalte Dasein auch noch aus der Nähe anzusehen.
    Wenn die Soldaten unter sich waren, wurde gescherzt und gelacht. Auch das befremdete mich. Was konnten das für Menschen sein, die in ein fremdes Land reisten, dort eine Schneise der Verwüstung hinterließen und dabei so fröhlich waren?
    Friedrich teilte sich die Bude mit elf anderen Soldaten. Nach Abenden, an denen sie Ausgang hatten, schwangen sie angeberische Reden. Sie würden es dem Tommy schon zeigen, sagten sie dann, und auch

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