Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
an mir.
Wie mochte ich riechen? Ich weiß es nicht. Nach Reise und Rucksack, nach Seeluft und Gras, nach Tränen und Marmelade, nach Rasierwasser und Laub?
Sie atmete leise in mein Fell über der Schulter, dann drückte sie mich an ihre kleine Brust. Sie mag sechs, vielleicht sieben Jahre alt gewesen sein. Genau das Alter, in dem Kinder genug vom Leben verstehen, um die Freundschaft eines Bären zu schätzen.
»Wie heißt du?«, fragte sie mich in ihrer eigentümlichen Sprache.
Jetzt hatte ich mich doch gerade an Deutsch gewöhnt!
»Bist du auch ein Deutscher, wie der Mann?«
Nein! Ich bin …
Ja, was war ich? Allmählich wusste ich es selbst nicht mehr. Engländer? Franzose? Oder doch Deutscher? Oder von allem ein wenig?
»Hast du einen Namen? Bestimmt hast du einen Namen. Mutter sagt, die Deutschen sind so genau.«
Henry. Henry N. Brown.
Ich konnte es nicht lassen, ich versuchte es noch mal mit meinem Namen. Vielleicht half es ja.
»Du bist aber ein sehr schöner Bär. Und ganz weich …«
Danke, du auch.
»Fast so weich wie Skulla. Skulla ist meine Katze, willst du sie kennenlernen?«
Ach nein, lieber nicht.
Sie schwieg wieder und strich mir über den Rücken, verlor sich in Kinderträumen und schien völlig vergessen zu haben, wo sie sich befand.
Friedrich stand so unvermittelt im Zimmer, dass selbst ich erschrak. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Das Mädchen fuhr verängstigt herum.
Der Gefreite Ballhaus stand so bedrohlich im Türrahmen, dass selbst mir bange wurde.
Friedrich, tu jetzt bloß nichts Falsches. Dies ist ein sehr liebes kleines Mädchen, und sie kann überhaupt nichts für deinen dummen Krieg.
Er sah uns an. Das Mädchen und mich. Und überraschenderweise war sie es, die das Schweigen brach.
»Hei«, sagte sie.
»Hei«, antwortete Friedrich, und ich erkannte den Anflug eines Lächelns.
Aha, so viel konnte er also schon. Gut, sehr gut.
»Hva heter han? «, fragte sie.
Friedrich machte ein hilfloses Gesicht. Er zuckte die Schultern und hob entschuldigend die Hände.
Ich war amüsiert. So weit war es also her mit der Bedrohlichkeit meines Fritz.
»Wie bitte?«, sagte er.
Sie will wissen, wie ich heiße, du Einfaltspinsel!
»Bjørnen. Hva heter han?«
»Ich verstehe dich nicht, meine Kleine, es tut mir leid.«
Das Mädchen ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Geduldig tippte sie sich mit ihrem kleinen Zeigefinger auf die Brust.
»Jeg heter Guri.«
Dann deutete sie auf ihn und nickte: »Du heter Friedrich.«
Friedrich nickte ebenfalls. Er hatte sie verstanden.
»Guri«, sagte er. »Du bist die kleine Guri.« Und dabei bemüht er sich, ihren Namen richtig auszusprechen: »Güri. Wie Gürkchen.«
Sie strahlte ihn an. Da stand er, der fremde Wehrmachtssoldat, und hatte kapituliert. Wie entwaffnend ein Kinderlachen sein kann.
Jetzt deutete sie auf mich und fragte noch einmal: »Hva heter Bjørnen? «
»Ole«, sagte Friedrich leise. »Mein Bär heißt Ole.«
»Ole«, wiederholte Guri, und wie sie es sagte, hörte es sich an wie Ule.
Sie sahen einander schweigend an.
Dies ist mein Friedrich, Marlenes Friedrich, und der liebt Kinder und mag die Menschen, dachte ich erleichtert.
Doch die kleine Guri schien sich plötzlich bewusst zu werden, dass sie sich auf verbotenes Terrain gewagt hatte. Sicher hatten ihre Eltern ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie in der Nähe des Deutschen nichts verloren hatte.
»Wenn wir ihn in Ruhe lassen, lässt er uns vielleicht auch in Ruhe«, hörte ich Torleif, den Bauern, einmal sagen, und ich verstand sehr gut, was er meinte.
Guri sah mich noch einmal an, dann ließ sie mich unvermittelt fallen und schoss wie der Blitz an Friedrich vorbei und aus dem Zimmer. Er sah ihr nach und schüttelte den Kopf. Dann hob er mich langsam auf.
»Nun, Ole«, sagte er. »Vielleicht haben wir ja eine neue Freundin gefunden. Guri. Was die Leute hier für merkwürdige Namen haben. Ingvild. Guri. Bin gespannt, wie der Mann heißt. »Ule«, sagte er. »Du heter Ule. Ich kann Norwegisch!«
Und er lächelte stolz.
Wir ließen uns aufs Bett fallen und unterhielten uns ein wenig mit Marlenes Fotografie, während in Gol die Nacht hereinbrach.
Nach der ersten Begegnung in unserer Behausung waren Guris leise Schritte immer öfter zu vernehmen. Anfangs spähte sie vorsichtig durch den Spalt zwischen der schiefen Tür und ihrem Rahmen, durch den immer ein Hauch kalte Bergluft hereinströmte. Zwei Tage später stand sie bereits halb im Zimmer, und am
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