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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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Augen schließen. Doch ich musste hinsehen, hatte keine Wahl.
    Marlene, dachte ich. Marlene. Ingvild. Guri. Torleif. Marlene. Franziska. Tante Lottchen. Friedrich. Magnus.
    Magnus hob sein Gewehr. Friedrich bewegte sich nicht. Sie ließen den Blick nicht von einander. Langsam bewegte sich Magnus rückwärts, die Flinte hoch erhoben. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Die Waffe auf den gebannten Friedrich gerichtet.
    Friedrich schüttelte langsam den Kopf. Sehr langsam.
    Dann drehte Magnus sich um. Er sprang mit einem Satz über den Zaun und verschwand nach rechts im Wald zwischen den langen Schatten der Bäume.
    Ich weiß nicht, wie lange Friedrich noch so stehen blieb und der Gestalt nachsah. Eine Minute. Vielleicht auch zwei. Dann ließ er sich schwer auf die Bank fallen. Er entdeckte mich. Hob mich bedächtig auf und sah mich an.
    »Morgen. Morgen mein Freund, fahren wir nach Hause«, sagte er leise. »Dann geht uns das alles hier nichts mehr an.«
    So war Friedrich: in den Gedanken schon zu Hause.
    Er lächelte.
    Und er lächelte auch noch, als die Kugel, die von links aus Richtung der Scheune kam, seine Brust durchschlug.
    Ich rutschte langsam aus seinen Händen und fiel geräuschlos in den kalten Schnee.

5
    D ie Hoffnung stirbt zuletzt.
    Was für eine Aussage. Doch zumindest für mich trifft sie zu.
    Ich hätte viele Gelegenheiten in meinem Leben gehabt, die Hoffnung endgültig sterben zu lassen. Aber, oh Wunder, sie lebt noch immer.
    Und ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich das Alice zu verdanken habe, denn irgendwie scheinen mir Hoffnung und Liebe eng miteinander verbunden zu sein.
    Welche Ironie des Schicksals, dass nun wegen der Liebe mein letztes Stündchen geschlagen haben soll. Das kann ich nicht einfach so hinnehmen.
    Ich glaube das einfach nicht.
    Die Schriftstellerin wird wiederkommen.
    Sie ist nicht der Typ, der aufgibt. Auf mich hat sie den Eindruck gemacht, als ließe sie sich nicht alles gefallen. Sie wird kämpfen und gewinnen.
    Sie wird mich mitnehmen, und wir werden nach Hause fahren. Morgen werden wir über diesen Tag lachen.
    Ich bin noch immer gerettet worden.
    Wo wären wir in diesem Krieg hingekommen, wenn nicht die Hoffnung uns weitergetragen hätte, in den nächsten Tag, ins nächste Jahr?

WER HOFFEN DARF
    E in warmer Sommerwind wehte über den winzigen Ort Dreihausen und trug die Klänge von Musik zu uns herüber. Sie kamen vom Nachbarhaus. Marga Möhrchen hatte ihrer Tochter Julchen zum sechzehnten Geburtstag das heiß ersehnte Transistorradio geschenkt. Das Geld dazu hatte sie sich vom Munde abgespart, und die fehlenden zehn Mark hatte Onkel Albert ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit auf unbestimmte Zeit geliehen. Nun dudelte das Radio unablässig die neusten Schlager aus dem In- und Ausland.
    Ich fand das herrlich. Ich liebte Radiomusik.
    Wenn Viktoria Rosner Einwände erhob, weil sie »nur ein Mal« mittags ungestört auf der Gartenliege ein Schläfchen machen wollte, ließ Julchen ihr rot gepunktetes Kleid um die Knie schwingen und antwortete leichthin:
    »Aber, Tante Vicky. Ich will doch Sängerin werden und berühmt, da wird man doch wohl noch üben dürfen.« Und dann sang sie zum Beweis aus voller Kehle: »Ich fahr mit meiner Lisa zum schiefen Turm von Pisa.«
    An diesem Tag hatte sich Viktoria die Ohren mit Watte verstopft und machte auf diese Weise ihr ungestörtes Schläfchen. Ihr Bruder, der knurrige Onkel Albert, war im Haus verschwunden, um für den Abend Kalte Ente anzusetzen und vermutlich um nebenbei noch ein heimliches Gläschen zu trinken.
    Melanie und ich saßen auf den warmen Steinplatten der Terrasse. Sie sah den Ameisen dabei zu, wie sie versuchten, ein halbes Stück Würfelzucker abzutransportieren. Manchmal legte sie ihnen ein Stöckchen in den Weg und beobachtete, wie sie das Hindernis umgingen. Manchmal zerdrückte sie einfach ein paar von ihnen und schaute dann zu, wie die anderen Ameisen sich um die Opfer des Anschlages kümmerten.
    Melanie war zwölf und ein eigenartiges Mädchen. Doch das machte mir schon lange nichts mehr aus.
    Ich genoss die wärmende Sonne auf dem Pelz und lauschte verträumt Julchen, die in der Hängematte lag und mit Verve in der Stimme »Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück morgen Früh, bella, bella, bella Marie, vergiss mich nie«, sang, wobei sie das »nie« fast schon ungebührlich in die Länge zog.
    »Ach, Capri«, seufzte sie theatralisch, als Rudi Schurickes Lied verklang. »Das klingt so schön.

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