Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
deshalb liebte ich sie nicht weniger. Marlene sorgte dafür, dass ich immer in Charlottes Bett schlief und immer in Reichweite war, wenn die Kleine schrie und sich nicht beruhigen ließ.
Denn das kann ich! Bis heute sind meine Fähigkeiten, Säuglinge zu beruhigen, unerreicht! Kaum lag ich bei Charlotte, angelte sie nach meinem rechten Ohr und rieb es so lange zwischen den Fingern, bis sie einschlief. Leise und friedlich und voll Vertrauen.
Ich verlor die beiden am 27. April 1944.
Es war ein Uhr morgens, und am Abend zuvor war es spät gewesen. Franziska und Fritzi waren bei uns gewesen, sie hatten Bezugsmarken ausgetauscht und einander mit verschiedenen Lebensmitteln ausgeholfen. Marlene war schläfrig, als der Alarm losbrüllte. Zum hundertsten Mal trieb er uns aus dem Bett. Doch in dieser Nacht waren die Flugzeuge der Royal Air Force schneller als sonst. Sie ließen uns kaum fünf Minuten Zeit, in den Luftschutzkeller zu kommen.
Leo, dachte ich. Hoffentlich ist er nicht dabei. Ich sah sein zorniges Kindergesicht vor mir und dachte, hoffentlich ist er nicht dabei. Diesen Gedanken hatte ich jede Nacht.
Es war sternenklar. Schon von Weitem hörten wir das bedrohliche Donnern der herannahenden Flugzeuge. Die Flak ließ den Himmel in grellen Blitzen aufleuchten, und dann fielen die ersten Sprengbomben. Eine davon traf den Bunker in der Neusser Straße. Unseren Bunker, den wir aufsuchten, weil er der einzige Ort war, an dem wir uns sicher fühlten.
Ich erinnere mich noch an den lauten Knall, die Erde bebte und die Menschen im Schutzraum riefen laut durcheinander. Glas zerbarst. Ganz in meiner Nähe hörte ich Frau Schmitz vor Schmerz aufschreien. Steine fielen herab. Ich fiel zu Boden und spürte, wie der Schutt über mich rutschte. Ich sah im Staubnebel nicht, wo Marlene und Charlotte waren. Ich hörte nur Charlottes Weinen und die Detonation weiterer Bomben. Und dann war es irgendwann still.
Als ich viele Wochen später gefunden wurde, hatte ich jeden denkbaren Gedanken gedacht, mein Kopf war leer und mein Herz voll.
Es hatte geregnet und wieder aufgehört. Ich war nass geworden und wieder getrocknet.
Nächtelang hatte es Bomben gehagelt, aber ich hatte keine Angst. Nicht um mich. Doch Marlene und Charlotte fehlten mir fürchterlich. Die Ungewissheit über ihren Verbleib machte mich ganz krank.
Warum musste es so viel Leid geben? Ich verstand es einfach nicht.
Ich hatte schon häufiger Stimmen gehört, Menschen, die gekommen waren, um die Trümmer des Bunkers zu beseitigen. Kinder, die zwischen den Mauerresten spielten und Flaksplitter sammelten. Doch niemand hatte mich gefunden.
Bis eines Tages der Stein, der seit einer Ewigkeit mein Bein zerdrückte, einfach aufgehoben wurde.
Licht. Luft. Die Sonne schien. Ich musste blinzeln.
»Ach, du dickes Ei«, rief eine Frauenstimme und griff nach meinem Arm.
Voooorsichtig!
Die Stimme fuhr fort: »Hab ich einen Schreck gekriegt! Ich dachte schon, da liegt ein Mensch.« Eine Hand klopfte mir auf den Rücken, und eine Staubwolke umgab mich. Jemand blies mir ins Gesicht.
»Na, wenn das nicht der kleine Ole ist! Es geschehen ja doch noch Zeichen und Wunder!«
Ole?
Da kannte jemand meinen Namen. Ich sah genauer hin. Es war Fritzi Rosner, der Schutzengel der Familie, zu der ich ja im weitesten Sinne auch zählte.
Der Stein war nicht nur von meinem Bein, sondern auch von meinem Herzen genommen. Es tat so gut, ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Dass ausgerechnet sie mich fand, war ein echtes Wunder, das sah selbst Fritzi ein, die doch sonst immer mit beiden Beinen auf der Erde stand.
»Du bist ja ziemlich mitgenommen, kleiner Bär. Aber immerhin ist noch alles dran. Und die paar Schrammen kriegen wir auch noch geflickt. Wozu bin ich Krankenschwester.«
Sie lachte, und ich war glücklich.
Fritzi würde mich nach Hause bringen, zu Marlene und Charlotte. Wir würden in die Wohnung nach Nippes gehen, es würde nach Muckefuck und Kartoffeln riechen und die beiden würden über das Wiedersehen mindestens ebenso erfreut sein wie ich. Alles wäre gut. So gut, wie es unter diesen Umständen eben geht.
Ach, Träumen ist so schön. Wenn nur das Aufwachen nicht so schrecklich wäre.
Die Wohnung in Nippes gab es nicht mehr. Überhaupt gab es ganze Häuser und Straßenzeilen nicht mehr. Ruinen ragten mahnend in den Himmel, halbe Gebäude, die auf merkwürdige Weise Einblicke in Wohnungen und Leben freigaben. Sessel hingen mit zwei Beinen in der Luft, Teppiche, Bilder lagen im
Weitere Kostenlose Bücher