Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
hielt mich im Arm und rieb mit dem Daumen über das kleine Schmuckstück, das ein Talisman von Tante Lottchen gewesen war. Dann brachte sie mich zu Marlene, die in ihrem Bett lag und schlief. Auf dem Nachttisch standen zwei Bilder. Ein gerahmtes Foto, das Friedrich zeigte, wie er an den Pollerwiesen einen Blumenstrauß pflückt und glücklich in die Kamera winkt. Daneben stand ein Bild von Ingvild, Guri und mir auf der Bank. Eine Welle der Wehmut erfasste mich.
Als Marlene aufwachte, lag ich neben ihr. Sie drehte den Kopf und sah mich. Stumm nahm sie mich in beide Hände und drückte mich ans Gesicht. Ihre Tränen verschwanden in meinem Fell.
Ich fühlte ihre Trauer, ihre Einsamkeit und ihre Verzweiflung. Jedes Gefühl, das in ihr lebte, durchströmte mich mit einer Macht, die kaum zu beschreiben ist.
Es gab nur noch uns.
Nein.
Es gab noch jemanden. Und dieser Jemand meldete sich mit einem durchdringenden Schrei.
Marlene hatte wenige Wochen zuvor ihr Kind geboren. Friedrichs Stammhalterin. Das kleine Mädchen hieß Charlotte und war gerade mal so groß wie ich. Es lag in einer Wiege neben dem Bett und forderte volle Aufmerksamkeit.
So verzweifelt Marlene auch war, so dankbar war sie für dieses kleine Wesen, in dem Friedrich weiterlebte. Es hielt sie zusammen. Es gab ihr einen Sinn. In diesem Krieg, der so viele Leben nahm, konnte trotzdem noch neues entstehen. Ich war fast erleichtert, als ich das erkannte.
Ich hatte noch nie ein so kleines Kind gesehen. Mir fiel Marie ein, die Frau von Jean-Louis, die hochschwanger gewesen war, als sie aus Paris flohen. So also sahen die Kinder aus, wenn sie frisch waren. Trotz der Trauer um meinen Freund war ich eigentümlich berührt und glücklich, als ich dieses rosige Bündel sah.
Glück und Trauer schienen einander nicht auszuschließen, bemerkte ich erlöst.
Charlotte konnte nicht sprechen und nicht laufen. Sie konnte mit den Armen und den Beinen rudern und gurgelnde, glucksende Geräusche machen und sonst eigentlich nichts. Äußerlich unterschied uns also genau genommen nicht sehr viel. Dennoch hatte ich das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Ich wollte bei ihr sein, wenn sie weinte, wollte keinen Augenblick verpassen, in dem sie lachte und krähte. Es war, als sei ich es Friedrich schuldig. Ihn hatte ich nicht beschützen können. Doch seine Tochter sollte in mir wenigstens einen weichen Vertrauten finden.
Es ist schwer zu beschreiben, wie ich mich in dieser Zeit fühlte. Ich vermisste Friedrich. Auch wenn er nur einer in der langen Reihe meiner Besitzer war, unterschied sich dieser Abschied von allen anderen, die ich bis zu diesem Tag erlebt hatte. Und ich kann wohl von Glück sagen, dass ich der meisten Besitzer auf andere Art verlustig ging als ihm.
»Tiere und Menschen werden geboren, und irgendwann sterben sie«, hatte Ingvild der kleinen Guri erklärt, als die Kuh Mulla geschlachtet wurde. Das musste man wohl einfach akzeptieren. Aber ich verstand es nicht. Ich lebte weiter, und Friedrich war tot. Er war einfach fort. Ich konnte mir nicht, wie ich es sonst getan hatte, ausmalen, dass er andernorts sein Leben genoss, während das Schicksal mich zu einem neuen Abenteuer geführt hatte. Es dauerte lange, bis mir bewusst wurde, was das wirklich bedeutete. Und manchmal frage ich mich noch heute, ob man es wirklich begreifen kann.
Man ließ uns keine Zeit zum Trauern.
Die Engländer jagten jede Nacht über Köln hinweg und säten Bombenteppiche, die so dicht waren, dass kaum eine Maus entkommen konnte.
Jede Nacht rannten wir in den Bunker um die Ecke. Marlene hielt Charlotte und mich in eine Decke gewickelt fest im Arm und lief durch Nippes. Im Eiltempo ging es die Neusser Straße hinunter zum Luftschutzraum, wo wir Frau Schmitz und Herrn Ploemacher trafen und all die anderen Leute aus der Nachbarschaft. So ging es Nacht für Nacht, zwei Jahre lang, während Köln um uns herum zerfiel.
Es fühlt sich unwirklich an, das zu sagen. Meine Erinnerung an diese Zeit ist undefinierbares Durcheinander, aus dem nur ein Gefühl klar heraussticht: die Hoffnung, dass es das letzte Mal war, dass der Fliegeralarm erklang. Dass wir nie wieder aus dem Schlaf geschreckt würden. Dass der Krieg ein Ende hatte. Doch die Sirenen heulten wieder und wieder.
Charlotte war mir bald über den Kopf gewachsen, jeden Tag war sie ein Stückchen größer. Im Gegensatz zu mir lernte sie laufen und konnte irgendwann einzelne Worte sagen, zugegeben, manchmal stach mich der Neid, doch
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