Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Ich frage mich, ob ich diese rote Sonne jemals zu sehen kriege.«
»Es ist dieselbe Sonne wie bei uns«, sagte Melanie leise und wischte sich eine Ameise vom nackten Unterschenkel.
»Du hast wirklich keinen Sinn für Romantik!«, beschwerte sich Julchen. »Aber woher auch, du bist ja auch noch ein Kind.«
Aber ich! Ich verstehe genau, was du meinst.
Melanie schwieg, und Julchen sang fröhlich: »Hei, wir tummeln uns im Wasser, wie die Fischlein, das ist fein, und nur deine kleine Schwester, ja, die traut sich gar nicht rein …«
Ich wusste genau, dass auf der anderen Seite der Hecke Dr. Caspar M. B. Wippchen auf der Bank unter seinem Birnbaum saß und ebenfalls lauschte – vermutlich mit ebenso viel Sinn für Romantik wie ich. Ich meine, sogar ein leises Lachen gehört zu haben. Der Rauch seiner Zigarre wehte in Schwaden herüber und verriet ihn. Er genoss solche Nachmittage.
Julchen war der Farbtupfer von Dreihausen. Sie brachte Leben in das kleine Dorf. Und von Farbe und Leben konnte damals wirklich niemand genug bekommen.
Plötzlich ertönte durch den gemütlichen Frieden des Nachmittags ein quäkendes Hupen. Es klang ein wenig wie die alten Autohupen damals in London. Viktoria schlug verwirrt die Augen auf und zupfte sich die Watte aus den Ohren. Onkel Albert schaute aus dem Küchenfenster. Melanie sprang auf, griff mich am Arm und lief ums Haus.
»Sie sind da! Sie sind da!«, rief sie aufgeregt. »Onkel Albert, sie kommen!«
Auf dem Kopfsteinpflaster der Dreihausener Hauptstraße kam ein knallroter Motorroller zum Stehen. Darauf saßen Fritzi und Franziska Rosner und strahlten.
»Was sagt ihr nun, Kinder?«, rief Fritzi, die den Lenker hielt, stolz.
»Dürfen Frauen heutzutage so ein Gefährt benutzen?«, fragte Onkel Albert.
»Also, Onkel Albert!«, rief Fritzi vorwurfsvoll aus.
»Das ist ja riesig entzückend!«, sagte Julchen und klatschte in die Hände. Ihr dunkelbrauner Pferdeschwanz wippte vor Begeisterung auf und ab. »Darf ich auch mal mitfahren?«
»Klar, du bist ja auch schon bald erwachsen«, sagte Fritzi.
Unter Applaus stiegen die beiden von ihrem Gefährt.
»Sie heißt Bella«, erklärte Franziska, und ihr Gesicht leuchtete vor Freude und Zuversicht.
Es war so schön, sie glücklich zu sehen.
Es war das Jahr 1951, und alle wollten glücklich sein. Die Hoffnung ruhte auf der Zukunft, und die war viel versprechend. Keiner mochte mehr daran denken, was hinter uns lag. Niemand wollte noch an die Qual erinnert werden. Ein Mantel des Schweigens lag schwer darüber, in der Hoffnung, die Schmerzen erträglicher zu machen.
Ich konnte sie verstehen. Selbst wenn ich hätte reden können – auch ich hätte nichts zu sagen gehabt. Worüber sollte man sprechen, wenn man alles verloren hatte.
Nach dieser eisigen Nacht in Gol, in der alle Hoffnung, die Friedrich im Herzen trug, von einer einzigen Kugel zerfetzt worden war, hatten sich die Ereignisse überschlagen.
Blind und taub vor Trauer wurde ich nach Deutschland zurückgeschickt. Ich wagte nicht daran zu denken, was mich dort erwartete.
Man hatte Friedrichs persönliche Gegenstände in einen Pappkarton packen lassen, um sie an Marlene zu schicken. Mich eingeschlossen.
Ingvild hatte stumm und sorgfältig alles gefaltet, fast so, wie Marlene es getan hatte, als wir vor einer halben Ewigkeit in Köln aufgebrochen waren. Als Letztes hatte sie mich obenauf gelegt. Dann hatte sie einem wartenden Wehrmachtsoffizier Friedrichs Sachen ausgehändigt.
»Dieser Teddy war wichtig«, hatte sie dem Offizier in gebrochenem Deutsch erklärt. »Seine Frau muss ihn haben.«
Ich hörte Guri schluchzen.
Dann schloss sich der Deckel des Kartons über mir und es wurde endlich dunkel. Ich wollte nichts mehr sehen.
Ein Bär weint nach innen.
Es war Fritzi Rosner gewesen, die den Deckel wieder öffnete. Im Gegensatz zu Marlene oder Franziska hatte sie die Kraft dazu, die Sachen ihres Schwippschwagers auszupacken, sie hatte auch die Sachen ihres Bruders Hänschen ausgepackt. Sie tat es, um zu verstehen, und um den Verlust besser ertragen zu können.
»Ach, Ole«, sagte sie und seufzte, als sie mich in die Hand nahm. »Konntest du Friedrich nicht besser beschützen?«
Nein! Ich kann doch nichts dafür! Was sollte ich denn tun, ich bin doch nur ein Bär!
Sie nahm die Hemden und Socken aus dem Karton, und den Umschlag mit seinen Papieren. Schwer fiel die kleine goldene Schildkröte, die auf seiner Erkennungsmarke gesessen hatte, auf den Tisch. Fritzi
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