Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Freien. Ich hatte Mühe, überhaupt wiederzuerkennen, wo wir uns befanden.
Ein Militär-Konvoi fuhr an uns vorüber, die Wagen hielten vor einem Haus in der Nähe. Zehn Soldaten verschwanden im Eilschritt im Eingang, die anderen nahmen Haltung an. Ein weiterer Wagen kam um die Ecke. Ein Offizier öffnete den Wagenschlag. »Heilittla«, schrien die Soldaten und salutierten. Der Mann hob kurz den rechten Arm und beugte sich hinunter zum Wagen.
»Steigen Sie schon aus, Speer, das sollten Sie sich ansehen.«
Ein weiterer Mann stieg aus, und ich sah noch aus dem Augenwinkel, wie die beiden sich vor einem mageren Mann aufbauten, der in Handschellen aus dem Haus geführt wurde.
So sah der Krieg in Deutschland aus, wenn man mittendrin steckte. Niemand konnte sich hier sicher fühlen.
Während Fritzi und ich durch die Trümmer stiegen, murmelte sie vor sich hin: »Dann hatte Franziska also doch recht. Marlene und Charlotte müssen bei dem Angriff im Bunker gewesen sein. Ach, Ole, wenn du doch sprechen könntest! Du weißt bestimmt, was aus den beiden geworden ist.«
Der Schreck fuhr mir in die Glieder, als sie das sagte.
Wisst ihr es denn nicht? Ihr wisst nicht, wo meine Familie ist?
»Na, wenn wir dich gefunden haben, werden wir die anderen beiden doch auch aufstöbern, meinst du nicht?«
Zumindest schien Fritzi überzeugt zu sein, dass Marlene und Charlotte beim Einsturz des Bunkers nicht ums Leben gekommen waren. Aber wo waren sie? Wo war die rosige Charlotte mit ihren kleinen Zähnchen? Wo war Marlene?
Vielleicht waren sie entkommen, vielleicht hatten sie überlebt, vielleicht gab es doch noch Hoffnung.
Vielleicht aber auch nicht.
Mein Herz war schwer.
Henry N. Brown, Optimist der ersten Stunde, war an seinem Tiefpunkt angelangt.
Fritzi reparierte meine kleinen Blessuren noch am Abend meiner Heimkehr. Viel war mir nicht geschehen: Ein kleiner Riss am Arm, und das Ohr, das Charlotte immer gerieben hatte, war ein wenig lose gewesen. Doch die Liebe war noch an ihrem Platz, das spürte ich genau, auch wenn ich mich fragte, was ich damit noch sollte. Jetzt, wo alle, die ich liebte, fort waren.
Franziska hatte mich stumm in die Arme geschlossen, als Fritzi mit mir im Schlepptau nach Hause gekommen war. Sie hatte mich an sich gedrückt und tief eingeatmet. Und ich sah in ihren Augen die Sehnsucht nach ihrem Bruder, nach ihrer Schwägerin, nach ihrer Nichte und nach Frieden.
Ich erinnerte mich daran, wie besorgt Friedrich immer um seine Schwester gewesen war, Franziska mit dem zarten Gemüt, hatte er sie genannt und dabei sorgenvoll gelächelt. Doch sie war zäh und hielt durch.
»Ich repariere ihn«, hatte Fritzi zu ihrer Schwägerin gesagt.
Und die hatte genickt und gelächelt.
Melanie, die kleine Tochter von Franziska und des aus der Luft geschossenen Hänschen, wartete geduldig, bis Fritzi den letzten braunen Faden vernäht und abgebissen hatte, dann nahm sie mich entschlossen in ihre linke Hand, umfasste mit ihrer kleinen, schwitzigen Kinderfaust meinen rechten Arm und drehte ihn nach oben.
Ach, bitte nicht so …
Alice hatte meine Schultern zwar mit Gelenken versehen, doch mir behagte diese Position nicht besonders. Ich geriet in dieser Haltung leichter aus dem Gleichgewicht, wenn ich saß, außerdem kippte mein Kopf jedes Mal ein wenig nach links. Doch das kümmerte Melanie nicht. Sie ließ mich einfach nicht mehr los.
Sie war ein scheues Kind, blass und still. Mit großen Augen schaute sie in die Welt. Sie wollte nicht mit mir spielen. Sie wollte nicht mit mir sprechen. Sie wollte mir keine Geschichten erzählen und keine Sorgen anvertrauen. Sie wollte mich nicht zum Kapitän auf einem Schiff machen oder zum Gefährten ihrer Puppen. Sie wollte mich einfach nur herumtragen. Es war, als sei ich an ihrer Hand festgewachsen. So etwas war mir vorher noch nicht untergekommen.
Häufig dachte ich, dass sie in der Stille ihrer Seele ein besseres Leben gefunden hatte. Ich war für sie kein Teddy, ich war ihr Anker in die Realität.
Ich tat mich anfangs schwer in dieser Rolle. Ich gebe zu, ich hätte auch ein wenig Ansprache gebrauchen können. Ich hätte mich gern verloren in unbeschwerten Spielen – nur, um nicht immer an das denken zu müssen, was mir so sehr fehlte.
Ich fühlte mich einsam an Melanies Arm, ich fühlte mich auf merkwürdige Weise alleingelassen, wenn ich Schritt für Schritt mit meinem Kopf gegen ihre Knie donnerte. Doch so war Melanie und sie brauchte mich, wenn auch anders, als ich
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