Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
schließlich hat er damit gedroht, sich selbst umzubringen. Nichts von alledem hat er getan. Am vierten Tag war er einfach weg. Wir hatten uns ja schon auf Gott weiß was eingestellt. Aber er ist nie wieder gekommen. Futsch, aus. So kann man Männer auch loswerden …«
Melanie sah mit großen Augen von einem zum anderen. Ich glaube, sie hatte noch nie jemanden so viel reden hören. Ich hatte ihr da einiges voraus, ich erinnere nur an Elizabeth. Franziska legte den Arm um ihre Tochter und drückte sie fest an sich. Sie lächelte. Ich lag zwischen ihnen und fühlte mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lebendig.
Im Haus mit der Nummer 3 lebte Familie Finster. Ich fand von Anfang an, dass der Name nicht zu diesen Leuten passte. In den langen Stunden der Grübelei dachte ich manchmal, dass sie diesen Namen sicher auch einfach bekommen hatten, ohne je danach gefragt zu werden, ob er ihnen gefiel oder nicht. Ihnen ging es in diesem Punkt kaum anders als mir.
Die Finsters waren nämlich überhaupt nicht finster. Frau Finster war eine sanfte Frau, sie spielte Klavier und las gerne Bücher. Sie hatte eine blasse Haut und Augen in der Farbe von Haselnüssen. Herr Finster war Büroangestellter in der Stadt und sehr korrekt. Er trug immer einen Anzug, nur abends zog er den Schlips aus und wechselte in bequemere Schuhe. Er hatte eine dicke Brille und hinkte ein wenig mit dem linken Bein, doch niemand wusste, warum.
Sie waren unauffällig. So unauffällig, dass man sie kaum wahrnahm. Und doch sollte es Frau Finster sein, die eines Tages in unserer Küche stand und noch einmal daran erinnerte, dass man die Hoffnung nicht aufgab, bevor sie wirklich verloren war.
Sie kam selten zu Besuch, ich vermute, dass sie Angst vor Viktoria hatte. Was ich auch gut verstehen würde, denn Viktoria war laut und direkt, während Frau Finster eher leise und zurückhaltend war.
Trotz ihrer Unauffälligkeit gehörten die Finsters zu Dreihausen wie die große Kastanie am Dorfplatz. Marga Möhrchen hatte ein besseres Talent, mit Frau Finster zurechtzukommen als Viktoria. Die Frauen tauschten Romane und tranken gerne eine Tasse Kaffee zusammen, wenn es welchen gab. Doch das war selten.
Der Sonderling des Ortes hieß Dr. Caspar M. B. Wippchen. Zumindest beschrieb Viktoria ihn als Sonderling, ich kann nicht behaupten, dass ich ihn so merkwürdig fand. Er war einfach er selbst. Doch das gab für Viktoria Anlass zu zahlreichen Spekulationen:
»Der Wippchen ist ein ganz schräger Vogel«, erzählte sie, nachdem Franziska und Fritzi alles Wissenswerte über Marga und Julchen erfahren hatten. »Er hat einen Doktor, stellt euch das vor. Steht sogar auf seinem Klingelschild. Keiner weiß genau, woher er kommt. Dem Akzent nach zu urteilen, irgendwo aus dem Westen. Vielleicht Rheinland oder Eifel. Aber er wohnt ja schon seit Ewigkeiten hier, und ich kann wahrlich nichts Schlechtes über ihn sagen. Er ist immer sehr zuvorkommend, wenn man ihm begegnet. Julchen hat aus irgendeinem Grunde einen wahren Narren an ihm gefressen. Aber ich weiß nicht. Er erzählt so wenig von sich. Wenn er Arzt wäre, könnte er das doch einfach sagen, oder nicht? Wirklich. Man könnte ja mal in Not geraten. Julchen meint, er wäre so ein Sterngucker. Astro-irgendwas. Aber wozu braucht man denn da einen Doktor? Das versteh ich nicht …«
»Mama, ich bin sicher …«, begann Fritzi, wurde jedoch von ihrer Mutter unterbrochen.
»Also, insgesamt sind das hier fürchterlich nette Menschen. Wir halten alle fest zusammen. Auch Wippchen. Ich frage mich manchmal, wie alt der eigentlich ist …«
»Mama, ich bin sicher, wir werden sie alle bald kennenlernen.«
»Ja, da hast du recht, mein Kind. Vielleicht sollten wir sie einladen. Wir könnten …«
»Mama, ich glaube, wir müssen uns jetzt erst einmal ausschlafen.«
Franziska gähnte zur Unterstützung, und Melanie murmelte schlaftrunken, als ihre Mutter sich aufrichtete.
»Soll Oma dich ins Bett bringen?«, fragte Viktoria und strich Melanie über den Kopf. Ich spürte, wie das Mädchen starr wurde. Hilflos sah sie ihre Mutter an.
»Das wär’ doch schön, nicht?«, sagte Franziska und lächelte Melanie aufmunternd an.
»Nein«, sagte Melanie und wandte den Kopf ab.
Ähnlich wie Frau Finster hatte auch Melanie Angst vor ihrer Großmutter. Sie war ihr fremd, und Fremde mochte Melanie nicht. Das war mir nicht neu.
Ist es nicht seltsam? Auch wenn ich in all den Jahren, die ich in Melanies Hand verbrachte, nie das
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