Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
es gewohnt war. Und wie immer war es müßig, sich zu bemitleiden. Ein Bär tut, was ein Bär tun muss.
Köln lag in Schutt und Asche, und trotzdem war noch immer kein Ende der Angriffe abzusehen. Auch das Haus in der Schillingstraße, wo Fritzi, Franziska und Melanie untergekommen waren, war dem Erdboden gleichgemacht – wie alles in Bahnhofsnähe (dass der riesige Dom noch immer einigermaßen unbeschadet stand, grenzte an ein Wunder). Die Rosner-Mädchen, wie sie von den Leuten liebevoll genannt wurden, hatten keine feste Bleibe, und außer einem nasskalten Herbst drohte zudem der Einmarsch fremder Mächte.
Ich weiß nichts von Politik, von taktischer Kriegsführung und von Schwächung der zivilen Moral. Ich weiß nur, dass die Bedrohung übermächtig wurde. Von allen Seiten rückten Armeen von Soldaten an. Westlich von Köln, in Jülich, bebte bereits die Erde unter den taktfesten Schritten der amerikanischen Soldaten. Lange Flüchtlingstrecks kamen aus dieser Richtung.
Nur ein Gedanke trieb jetzt die Menschen voran: Nicht dem Feind in die Hände fallen! Ich konnte sie verstehen. Ich war einmal dem Feind in die Hände gefallen und war nur deshalb so glimpflich davongekommen, weil ich ein Bär war und weil Friedrich eine Schwäche für mich gehabt hatte.
Es war ein Déja-vu .
Ich habe diesen Ausdruck damals in England gelernt. Von Virginia.
»Es ist, als hätte ich das alles schon einmal erlebt«, hatte sie bei einem der Donnerstagstreffen erklärt, »wie Bilder, die man schon mal gesehen hat.«
Das hatte ich mir gemerkt, denn ich verstand nur zu gut, was sie meinte. Im Leben eines Bären sind Déja-vus an der Tagesordnung. Vieles wiederholt sich, Gutes und Schlechtes.
Im Herbst 1944 wiederholte sich die Angst vor dem Feind. Es war wie damals in Paris. Nur, dass jemand die Vorzeichen verkehrt hatte. Jetzt fürchteten die Deutschen die fremden Soldaten. Deutsche Gemüsehändler, Lehrer, Kneipenbesitzer, Mütter, Kinder – ihre Angst unterschied sich nicht von der der Franzosen. Und wie Jahre zuvor die Bouviers mussten nun auch die restlichen Mitglieder der Familie Rosner ihre Siebensachen packen. Viel zum Mitnehmen gab es nicht. Es bedurfte keiner Worte, um sich einig zu werden. Die beiden Frauen lächelten einander an. Sie hielten zusammen. Sie sorgten füreinander. Sie würden gemeinsam fliehen.
»Und was ist mit Marlene?«, fragte Franziska, während sie ihr Familienalbum in ihren Rucksack presste.
»Wir finden sie«, antwortete Fritzi. »Vielleicht nicht sofort. Aber wir werden sie finden, wenn wir überleben.«
Ihr müsst sie finden. Sie sind doch alles, was ich habe.
Waren sie wirklich alles, was ich hatte? Ich hatte doch eine Ersatzfamilie bekommen. Ich war ein Findelkind, von den Rosners fürsorglich aufgenommen und fraglos akzeptiert. Doch solange alle glaubten, dass Marlene und Charlotte lebten, war auch ich sicher, eines Tages wieder bei ihnen sein zu können.
Eines Tages würde mich Charlotte in den Arm nehmen, sie würde meinen Geruch wiedererkennen und sie würde mich drücken.
Ich ahnte nicht, wie lange sich diese Suche hinziehen würde.
Wir landeten in dem winzigen Dorf Dreihausen. Es war von Bomben verschont geblieben. Alle vier Häuser standen noch.
Wir klopften bei Hausnummer 1. Viktoria Rosner war unbeschreiblich froh, als diese dreckige Reisegruppe aus zwei Frauen, einem Kind und einem Bären vor ihrer Tür stand. Sie schaute fassungslos von einem zum anderen, schlug sich die Hände vor den Mund und rief nach ihrem Bruder. Dann, endlich, fiel sie ihrer Tochter Fritzi um den Hals.
Auch Franziska wurde umarmt und gedrückt. Fest.
Melanie und ich standen ein wenig abseits. Stumm schaute die Fünfjährige zu, wie sich die Frauen in den Armen lagen. Und mir wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, wie sehr Hänschen und Friedrich, Marlene und Charlotte fehlten, um die beiden Familien komplett zu machen. Es war ein trauriges freudiges Wiedersehen.
Wir fanden bei Viktoria und Albert ein Zuhause, wo endlich ein wenig Frieden einkehrte – auch wenn das Kriegsende noch auf sich warten ließ. Die Familie hatte immer zusammengehalten. Krieg, Armut, Kindersegen – alles hatten die Geschwister gemeinsam durchgestanden. Nun wurden sie langsam alt. Sie freuten sich über den unerwarteten Familienzuwachs.
Viktoria war eine kleine stämmige Frau, die resolut darauf bedacht war, das Heft in der Hand zu behalten. Bald war mir auch klar, von wem Fritzi ihre entschlossene Art geerbt hatte. Sie
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