Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
glich ihrer Mutter nicht nur äußerlich.
Onkel Albert ordnete sich schweigend unter und gab nur gelegentlich Widerworte, wenn seine Schwester ihm das Rauchen oder Trinken verbieten wollte. Dann konnte es vorkommen, dass er seinen gebeugten Rücken streckte und sich zu seinen vollen hundertachtundsiebzig Zentimetern aufrichtete. Wenn er wütend war, wurde seine Nase merkwürdig spitz und seine buschigen Augenbrauen zogen sich darüber wie eine Gewitterwolke zusammen. Doch meist war er nicht wütend, sondern auf seine eigenbrötlerische Weise mit seiner Schmetterlingsammlung beschäftigt. Dann saß er an seinem alten Sekretär mit den vielen kleinen Schubladen und hantierte mit Lupen und Nadeln.
Sie hatten das Haus unter sich aufgeteilt. In der Küche hatte Albert nur in Ausnahmefällen etwas verloren, dafür hielt Viktoria sich von seiner »Junggesellenbude« fern, wie sie sein Zimmer nannte. Das Wohnzimmer und die Stube waren neutrale Zone, und im Bad hatte er zu tun, was sie befahl. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass auch alle Neuankömmlinge sich ihren Regeln würden fügen müssen, doch das störte wahrlich niemanden. Wir hatten endlich wieder ein Dach über dem Kopf, das war zunächst die Hauptsache.
Eine ruhigere Zeit brach an.
Die Jagdflugzeuge donnerten zwar auch hier über uns hinweg, doch das Unheil verkündende Kreischen der Sirenen blieb aus. Die Nächte blieben oftmals ungestört, und die Tage waren erfüllt mit dem Beschaffen von Nahrungsmitteln für die fünf Mäuler, die es nun zu stopfen galt.
Das Leben im Dorf, die weiten Wiesen ringsum, die Geräusche der Natur und auch der vermeintliche Frieden, der hier herrschte, erinnerten mich häufig an Gol. Doch ich wusste ja, dass die Entfernung zum Kriegsgeschehen trügerisch sein konnte, und hatte nicht den Mut, diesem Idyll zu trauen. Der Krieg hatte sich tief in mein Herz gegraben.
Doch der Alltag holte die Menschen um mich herum rasch ein. Es dauerte nicht lange, und wir waren mit den restlichen Bewohnern von Dreihausen bekannt.
Im Nachbarhaus mit der Nummer 2 lebten Marga Möhrchen und ihre Tochter Julchen. Vom Fenster in Melanies und Franziskas Schlafzimmer aus, wo ich meist saß, wenn Melanie mich nicht herumtrug, konnte man das kleine Fachwerkhaus gut sehen. Es lag, von Birken umstanden, ein Stück von der Straße entfernt. Der Garten war ein wildwüchsiges Paradies für Vögel, Schnecken und Frösche, und nicht selten kam mir der Gedanke, dass Robert dort seine helle Freude gehabt hätte. Madame Denis’ Garten schien dagegen wie eine aufgeräumte Parkanlage.
Marga Möhrchen und Julchen lebten allein. Es gab, wie in so vielen Familien in dieser Zeit, keinen Mann im Haus mehr, eigentlich nichts Besonderes also. Doch dieser Fall war anders gelagert.
In Viktorias großer Wohnküche, ihrem Reich, wie sie es nannte, erfuhren wir noch am ersten Abend, was es mit den Nachbarn auf sich hatte.
»Marga hat ihn einfach vor die Tür gesetzt«, erzählte Viktoria mit gesenkter Stimme, als wir nach dem Abendessen auf der Eckbank zusammensaßen.
»Er war ein echter Säufer, müsst ihr wissen. Das war eine Geschichte, kann ich euch sagen. Die kleine Julitschka war gerade mal zwei Jahre alt damals, siebenunddreißig muss das gewesen sein. Als er eines Abends nach Hause kam, wieder voll wie eine Strandhaubitze natürlich, machte Marga einfach die Tür nicht auf. Er schrie und brüllte die ganze Nacht. Kinder, hat der Mann getobt. Dann ist er zu uns gekommen. ›Vicky! Mach die verdammte Tür auf. Ich mach euch allen die Hölle heiß, ihr elenden Weibsbilder!‹, hat er geschrien. Weibsbilder hat er uns genannt, das muss man sich mal vorstellen! Natürlich habe ich nicht aufgemacht. ›Albert‹, habe ich gesagt, ›Albert, wenn du auch nur in die Nähe der Tür gehst, sind wir geschiedene Leute. Wir müssen jetzt zu Marga halten, sie hat es wahrlich schwer genug mit diesem Trunkenbold.‹ Und wisst ihr, was Albert gemacht hat? Er hat sich erst einmal einen Korn eingeschenkt. Nun, das ist eine andere Geschichte. Marga hat ihr Haus komplett verbarrikadiert. Die Fenster, die Türen, ja sogar den Schornstein hat sie verstopft. Dann hat sie sich die kleine Julitschka ins Bett geholt und sich die Decke über den Kopf gezogen. Drei Nächte lang hat er uns den Schlaf geraubt. Erst hat er damit gedroht, sie umzubringen. Ich habe gedacht, mich trifft der Schlag, der war ja zu allem fähig, wisst ihr. Dann hat er damit gedroht, die Polizei zu holen, und
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