Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Gefühl hatte, dass Melanie mich überhaupt wahrnahm, also mich als Persönlichkeit (die ja so unübersehbar auch nicht ist), so wusste ich doch immer, dass ich eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte. Ich lernte ihre Gefühlsregungen zu deuten, ich wusste, wann sie Angst hatte und wann sie sich freute, wann sie Hunger hatte, wann sie sich einsam fühlte und wann sie die Menschen um sich herum nicht aushielt. Auch wenn sie mich nie an sich drückte, nie ihre Nase in meinem Fell vergrub, sondern mich nur wie eine Verlängerung ihrer linken Hand durch die Gegend trug – ich war ihre Stütze und tat mein Bestes, sie in dieser Welt zu halten.
Franziska mag eine zarte Seele gewesen sein, aber sie war unverwüstlich. Melanies Seele schien mir um ein Tausendfaches verletzlicher.
Obwohl Julchen nur dreieinhalb Jahre älter war als Melanie, lagen zwischen diesen beiden Mädchen ganze Kontinente von Unterschieden. Die einzige Gemeinsamkeit war, dass beide Zöpfe trugen, aber selbst die hatten nicht die gleiche Farbe. Julchens Haar war dunkelbraun und dick, Melanies hellblond und dünn.
Julchen war anfangs sehr bemüht um Melanie. Die Aussicht, endlich eine Freundin im Dorf zu haben, spornte sie ungemein an.
»Willst du meine Puppe haben?«, hatte sie gefragt, als sie Melanie zum ersten Mal gegenüberstand. »Ich schenke sie dir.«
»Nein«, hatte Melanie gesagt. »Ich brauche keine Puppe.«
»Willst du mal ihre Kleider sehen? Mama hat sie gemacht. Vielleicht kann sie für deinen Bären auch ein Kleid machen.«
»Nein. Ole braucht kein Kleid.«
Da hatte sie wahrlich recht. Ein Kleid hätte mir gerade noch gefehlt.
»Kann deine Mama auch nähen?«, bohrte Julchen weiter.
»Ja.«
»Und wo ist dein Papa?«
»In England.«
»Mein Papa ist auch weg. Zum Glück, sagt Mama immer. Ist deine Mutter auch froh, dass dein Papa weg ist?«
»Nein.«
»Wollen wir spielen, dass ich die Mutter bin? Dann könntest du der Papa sein und dein Bär unser Kind.«
»Nein«, sagte Melanie und sah Julchen aus ihren großen blauen Augen ernst an. Dann nahm sie mich am Arm und ließ Julchen stehen.
So schnell kann Hoffnung aufkeimen und vergehen.
Es hatte so gut angefangen. Ich hatte Julchens Augen gesehen und sie in mein Herz geschlossen. Ich wollte so gern mit ihr spielen, endlich wieder spielen. Doch mein Kopf wummerte weiter gegen Melanies Knie, und wir verschwanden im Wohnzimmer.
Warum willst du nicht spielen? Julchen ist doch ein nettes Mädchen! Du bist wirklich stur. Ich will aber mit ihr spielen!
»Nein«, sagte Melanie so leise, dass nur ich es hören konnte, und kroch in die Ecke hinter dem Sofa. »Nein.«
Sie hatte ihren eigenen Kopf, und in ihrem Kopf ihre eigene Welt. Und darin hatten nur die Menschen Platz, die sie sich aussuchte. Im Herbst 1944, wenige Wochen nach unserer Ankunft, suchte sie sich Onkel Albert aus. Sie stellte sich einfach neben ihn, als er einem Flugzeug in der Abenddämmerung hinterherstarrte. Sie schob ihre kleine rechte Hand still in seine große linke (an der anderen hing ich) und wandte den Blick ebenfalls zum Himmel.
»Das war bestimmt die V1«, sagte er. »Goebbels’ Wunderwaffe gegen den Tommy.«
»Frau Eins«, sagte Melanie nachdenklich und sah zu ihm auf. Albert nickte.
Die beiden schwiegen einträchtig und waren Freunde.
Genau wie sie sprach er nur wenig. Er stellte keine Fragen und wollte sie nicht zum Spielen zwingen. Er ließ das Mädchen einfach in Ruhe. Sie war die Einzige, die ihm zusehen durfte, wenn er an seiner Schmetterlingsammlung arbeitete. Melanie liebte es, ganz ruhig neben ihm zu sitzen, und ich war froh zu spüren, dass in diesem kleinen Kinderherzen neben der schweren Stille auch Glück und Zufriedenheit zu Hause waren.
Ich hatte zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl, angekommen zu sein. Irgendwo. An einem Ort, wo der Krieg weit weg war und es keine Soldaten gab. Doch wie befürchtet, trog das Idyll. Die Soldaten kamen wieder. Kaum ein halbes Jahr später erreichten sie unser Dorf, und Melanie und ich sahen sie als Erste.
Der Frühling hatte sich noch nicht richtig breitgemacht, aber tagsüber war es schon warm. Die Birken strahlten zartgrün, und die große Kastanie, unter der Melanie und Julchen im vergangenen Herbst die braun glänzenden Früchte aufgesammelt hatten, streckte auch schon wieder ihre siebenfingrigen Blätter aus. Melanie streifte durch den Garten und sammelte Käfer.
Sie kamen im Konvoi, und irgendetwas an ihnen war anders, auch wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher