Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
nicht benennen könnte, was es war. Melanie duckte sich hinter den Gartenzaun, doch es war zu spät, ein Soldat im letzten Wagen hatte sie entdeckt. Er hielt an.
»Hello, little girl«, rief er. »How are you?«
Melanie war vor Schreck wie erstarrt. Sie rührte sich nicht, umklammerte einfach nur meinen Arm und sah den fremden Mann an.
Das waren keine deutschen Soldaten. Es waren auch keine englischen Soldaten. Dieser breite Akzent erinnerte mich sofort an Onkel Max in Brooklyn. Es waren Amerikaner, das hörte ich schon am ersten Satz.
»Do you want some chocolate ?«, fragte der Soldat. »Schokolade?«
»Nein«, brachte Melanie hervor. »Nein.«
Ich glaube, wir verstanden beide die Welt nicht mehr. Ich vermutlich noch weniger als sie. So benahmen sich doch keine Soldaten, wenn sie ein Dorf besetzten. Die Amerikaner mochten vielleicht von Natur aus freundlich sein, dennoch schien mir, kriegserfahren wie ich inzwischen war, dieses Verhalten höchst merkwürdig.
Wut kochte in mir hoch.
Was wollt ihr hier? Könnt ihr uns nicht einfach in Ruhe lassen? Wir haben alles verloren, was wir geliebt haben. Was wollt ihr uns denn noch nehmen?
Der Wagen fuhr weiter bis vor unser Haus. Der junge Soldat sprang heraus und riss mit seinem lauten Klopfen Großmutter Vicky aus ihrem heiligen Mittagsschläfchen. Alle versammelten sich an der Tür, Julchen und Marga Möhrchen kamen an den Zaun. Frau Finster stand auf der Veranda und sah herüber.
»I have to make an announcement« , sagte der Soldat feierlich.
»The german governement has declared their unconditional surrender. «
Viktoria sah ihn fragend an. Sie verstand kein Englisch. Außer mir verstand hier niemand Englisch. Und so kam es, dass ich vor allen anderen wusste, dass der Krieg zu Ende war. Deutschland hatte kapituliert. Es war vorbei.
Während ich vor Erleichterung beinahe in meine Einzelteile zerfiel, schaute Viktoria verloren zu Fritzi, die wiederum Franziska ansah, die ihrerseits mit den Schultern zuckte.
»Germany has lost the war. Krieg vorbei«, sagte der Soldat mit einem breiten Grinsen. »You want some chocolate now?«, fragte er Melanie noch einmal.
»Nein«, sagte Melanie und versteckte sich hinter Franziska.
»Aber ich!«, rief Julchen begeistert. »Ich liebe chocolate.«
Die Jahre vergingen.
Die Dreihausener waren damit beschäftigt, ihr Leben in Ordnung zu bringen.
Es wurde geplant und gearbeitet, gelebt, den Blick starr nach vorn gerichtet. Die Sehnsucht nach einer heilen Welt war unbändig.
Franziska arbeitete als Schreibkraft in einem großen Büro. Morgens zog sie ein graues Kostüm an, sorgte dafür, dass die Naht ihrer Strumpfhose gerade verlief, setzte ein rundes Hütchen auf und ging zur Bushaltestelle an der großen Überlandstraße. Abends erzählte sie, dass sie zusammen mit fünfzig Frauen in einem riesigen Raum saß und dass alle im Takt auf ihre Schreibmaschinen einhackten.
Fritzi hatte in einer kleinen Landarztpraxis eine Stelle als Sprechstundenhilfe gefunden, und Julchen hatte einen Platz in der Hauswirtschaftsschule in Marburg bekommen, damit etwas Anständiges aus ihr würde. Marga Möhrchen wollte nur das Beste für ihre Tochter.
An jenem Sommertag 1951, als Fritzi und Franziska, die auch hier von allen nur die Rosner-Mädchen genannt wurden, obwohl sie doch inzwischen beide über vierzig waren, mit ihrem roten Motorroller Bella um die Ecke bogen, hatten wir uns langsam daran gewöhnt, dass Frieden herrschte. Zumindest taten wir so.
Wir versuchten so zu tun, als hätten wir uns dran gewöhnt, dass dieser Krieg Friedrich und Hänschen das Leben gekostet hatte.
Wir versuchten, so zu tun, als könnten wir ohne sie leben.
Wir versuchten so zu tun, als würden wir uns nicht andauernd im Stillen fragen, was aus Marlene und Charlotte geworden war.
Wir hatten uns daran gewöhnt, dass keine Bomben mehr fielen, auch wenn jeder Knall einer Fehlzündung Entsetzen auf die Gesichter rief.
Wir hatten uns schließlich auch daran gewöhnt, dass die Amerikaner immer in unserer Nähe waren und jetzt das Sagen hatten. Die Amerikaner, die Männer aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie brachten mehr als nur Schokolade – Kaugummi zum Beispiel.
Nachdem Melanie sich einmal überwunden hatte, ein »Tschuingam« anzunehmen, konnte sie davon gar nicht genug kriegen. Wenn sie abends ins Bett ging, klebte sie die graue Masse an den Bettpfosten und steckte sie am nächsten Morgen gleich wieder in den Mund. Auf diese Weise hielt
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