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Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)

Titel: Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Helene Bubenzer
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ein Kaugummi fast eine Woche.
    »Sie sind wirklich wenig hilfreich, diese Amerikaner«, sagte Viktoria, als sich eines Abends alle zur Bowle, die sie »Kalte Ente« nannten, versammelt hatten und Melanie schweigend, aber mit offenem Mund kauend dabeisaß. »So ein Unsinn, den Kindern solche schrecklichen Sachen zu geben.«
    Ich war vollkommen einer Meinung. Kaugummi war der Feind eines jeden Teddybärfells.
    »Und nicht nur den Kindern«, fügte Viktoria mit einem strengen Blick auf Albert hinzu, der sich tags zuvor von einem GI eine Schachtel Lucky Strike hatte schenken lassen, weil er endlich wieder richtige Zigaretten rauchen wollte.
    »Also, ich finde sie super«, sagte Julchen, biss sich auf die Unterlippe und schaute unschuldig drein. »Sie sind doch sehr nett …«
    »Super«, sagte Marga Möhrchen und warf Viktoria einen viel sagenden Blick zu. »Ist das auch so ein amerikanisches Wort?«
    »Keine Ahnung. Aber ich finde es super.«
    Viktoria seufzte. Doch eigentlich schien sie ganz zufrieden an diesem lauen Sommerabend. Die Amsel sang ihr Abendlied, Onkel Albert schenkte Bowle ein, alles war endlich mal wieder in schönster Ordnung.
    Sie schwiegen.
    Keiner schaute in dieser Zeit zurück. Sie waren froh, dass es vorbei war. Doch die Vergangenheit wollte nicht unter den Teppich gekehrt werden und forderte ihr Recht auf ihre Weise.
    Frau Finster klopfte zart an die Küchentür, als Franziska und Melanie Kartoffeln für das Mittagessen schrubbten. Es sollte Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl geben. Ich saß auf der Eckbank und sah ihnen zu.
    »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Frau Finster.
    »Sie stören doch nicht«, sagte Franziska. »Wir sind nur dabei, das Mittagessen vorzubereiten.«
    »Ich habe da etwas in der Zeitung gelesen, das Sie vielleicht interessiert.«
    Franziska blickte von den Kartoffeln auf.
    »Ein Inserat«, fuhr Frau Finster fort und richtete ihre Frisur.
    »Für eine Stelle?«, fragte Franziska. »Ich habe schon eine Arbeit gefunden.«
    »Nein. Es ist eine Suchanzeige.« Frau Finster zog umständlich die Zeitung aus ihrer Tasche und faltete sie auf.
    »Hier. Sehen Sie. Vom Deutschen Roten Kreuz. Sie haben einen Suchdienst eingerichtet, damit man Menschen wiederfinden kann, die man während des Krieges verloren hat. Sind Sie nicht auch von ihrer Schwägerin getrennt worden?«
    Franziska trocknete sich die Hände an der Schürze ab und schaute in die Zeitung.
    »Hier sucht jemand eine Familie Rosner aus Köln. Ich dachte, das wäre vielleicht etwas für Sie …«
    Ich spürte, wie die Luft im Raum knapp wurde. Ich sah, wie Franziska sich duckte unter dem Schmerz, der an diesem Spätsommertag so plötzlich und unvermittelt in ihr aufstieg, nachdem sie ihn so lange vergraben hatte.
    Ich hielt die Luft an.
    Wer könnte das sein? War es wohlmöglich Marlene, die uns suchte?
    Frau Finster sah Franziska unsicher an.
    »Ist alles in Ordnung? Ich dachte ja nur, es muss ja nichts zu bedeuten haben … es gibt sicher viele Rosners, aber vielleicht, also, die Hoffnung besteht doch …«
    Die Hoffnung. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
    Sofort war alles wieder da.
    Ich sah Marlene vor mir, wie sie Charlotte im Arm hielt und fütterte. Wie sie sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich und »Schschsch« machte, um das Kind zu beruhigen. Das Gefühl, wenn die Kleine mein Ohr zwischen den Fingern rieb und in mein Fell atmete. Der vertraute Geruch nach Muckefuck. Die Momente, wenn Marlene Friedrichs Bild anschaute und zärtlich mit dem Zeigefinger darüberstrich.
    Ich hätte alles dafür gegeben, wieder bei ihnen sein zu dürfen.
    Auch in Franziska hatte die Hoffnung überlebt. Tief unten, unter den Trümmern des Krieges, über die inzwischen Gras gewachsen war.
    »Ja, doch, es ist alles in Ordnung«, sagte sie und sah Frau Finster an. »Es ist nur … es kommt so überraschend. Jetzt muss ich mich erst mal setzen.«
    Ich sah, wie ihre Hände zitterten.
    »Ich lasse Sie dann mal allein. Sie können die Zeitung ruhig behalten«, sagte Frau Finster und fügte leise hinzu: »Ich wünsche Ihnen Glück. Dann wäre hier wenigstens eine Familie wieder komplett …«
    »Das ist lieb, danke«, murmelte Franziska abwesend und strich die Seiten glatt.
    Ich war Frau Finster unendlich dankbar. Sie hatte getan, was ich nicht vermocht hatte. Sie hatte die Vergangenheit in die Gegenwart geholt. In den letzten Jahren hatte ich mich immer wieder gefragt, wann sie endlich richtig anfangen würden, nach Marlene und

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