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Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman

Titel: Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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aus und kam in rauen Mengen, während sie meinen Kopf mit beiden Händen hielt und ihre Lippen auf meine presste, so fest, dass ich fürchtete, wir würden nie wieder voneinander loskommen. Das tat sie wohl in erster Linie, damit ich nicht den Rest des Hauses aufweckte.
    Schließlich löste sie ihren Kuss.
    »Du meinst das nicht, was du gesagt hast?«, fragte sie.
    Eine heftige Angst überfiel mich plötzlich, keine Todesangst, die handfest ist, sondern eine unbegreifliche Angst, die ich Geburtsangst nenne. Sie umfasst alles, was geschehen ist, bis zurück zum Anfang des Anfangs, ja, zu dem Punkt, an dem das Herz im Fötus zu schlagen beginnt. Wir, die Kantigen, fragen: Was habe ich getan? Todesangst dagegen ist die Angst vor dem, was noch nicht eingetroffen ist. Sie ist banal und schlicht, eine Angst für die Treuherzigen. Wer hat keine Angst vor der Zukunft, von der wir alle wissen, dass sie im Nichts endet? Täglich steht es in den Zeitungen. Darüber hätte ich meine Doktorarbeit schreiben sollen. Ich schweife ab. Ich bitte um Verzeihung. Lasst mich zurückkommen auf meine Angst, die Geburtsangst in der Hochzeitsnacht: Was hatte ich gesagt? Hatte ich es wirklich gesagt? Was war es, von dem sie hoffte, dass ich nicht das meinte, was ich gesagt hatte?
    Ich rollte wie ein Holzstamm von Sigrid herunter, blieb neben ihr liegen und starrte an die rosagestrichene Decke.
    Ich versuchte mich vorsichtig heranzutasten:
    »Meinst du nemo saltat sobrius ?«
    »Was?
    »Das bedeutet, dass niemand nüchtern tanzt.«
    »Ich meine die Hochzeitsreise! Meinst du wirklich, dass wir sie verschieben sollen?«
    Mehr war es nicht? Es hätte viel schlimmer sein können. Es hätte der Schwanz im Riesenrad oder andere Vorfälle und eine andere licencia poetica sein können. Ich wurde ganz fröhlich.
    Ich legte ihr vorsichtig die Hand auf die Hüfte, die noch warm war und leicht zitterte.
    »Doch. Das habe ich gemeint.«
    »Dass wir die Hochzeitsreise wegen diesem Notto Fipp verschieben sollen? Ist das wirklich dein Ernst?«
    Dieser Notto Fipp. So redete Sigrid von ihm: dieser.
    Ich biss die Zähne zusammen, während ich gleichzeitig versuchte zu sprechen, und die Worte wurden platt und zerfranst:
    »Eine Woche früher oder später spielt doch wohl keine Rolle?«
    »Du bist also der Meinung, dass du zuerst mit Notto Fipp nach Kristiansand fährst und dir anschließend eine Hochzeitsreise nach Nizza mit Sigrid Juell gönnst.«
    »Du heißt jetzt Sigrid Hval«, sagte ich.
    Sie schob meine Hand weg.
    »Fass mich nicht an!«
    Wir schwiegen beide eine Weile.
    Ich versuchte es noch einmal. Ihre Hüfte war jetzt kalt und fest.
    »Fass mich nicht an! Hörst du nicht?«
    Ich stand auf, fand das Etui mit den Drops in der Tasche des Fracks, der über einem Stuhl hing, kippte den Rest des Champagners in ein Glas und trat ans Fenster. Es war Licht in der Pförtnerwohnung, und ich konnte Notto Fipps schlaflosen Schatten hin und her gehen sehen. Bei ihm hätte ich sein sollen. Ich öffnete das Etui mit den Drops, änderte meine Meinung und verschloss es wieder. Recht und Wahrheit. Denn wenn man es genau nehmen will, dann haben wir, die Kantigen, die Starrsinnigen, die Untertänigen, eine Disziplin, in der uns niemand schlagen kann. Wenn wir uns erst einmal entschieden haben, dann ist es ein für alle Mal. Dann sind wir standhaft wie Monolithen. Ich beschloss, diese Drops aufzusparen. Ich wollte sie verstecken, bis ich es ernst meinte. Sie waren meine Lebensversicherung. Ich öffnete das Fenster, hörte das kühle Rauschen von Fluss und Wäldern, und spuckte hinaus, drei Rotzklumpen hintereinander und dann noch einen. Mein bereits reichhaltiges Repertoire war durch eine weitere Nummer erweitert worden, und diese Vorstellung kostete mich bald meine gesamte Zeit: schlucken, trampeln, wedeln, zählen, fluchen, schimpfen, Purzelbäume, Finger knacken, Zähneknirschen, all meine wütenden, launischen tic convulsif, und jetzt also noch spucken. Und ich wusste, dass es damit nicht zu Ende war. Für uns Kantige ist alles nur eine Frage der Zeit. Übrigens besorgte ich mir eine Dettweiler Spuckflasche, wie sie Lungenkranke benutzen, ich konnte doch nicht herumlaufen und überall in die Gegend spucken.
    Stattdessen zündete ich mir eine Zigarette an.
    »Notto Fipp ist noch wach«, sagte ich. »Vielleicht war Tora etwas zu viel für ihn.«
    »Sag mal, habt ihr was miteinander?«
    Es war Sigrid, die das fragte.
    Ich war empört.
    »Wer? Tora und ich?«
    »Nein, du und

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