Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
warum erinnere ich mich daran auf eine so sentimentale, fast rührselige Art und Weise? Sind es die Schläge der Standuhr hinter mir, die mich dazu bringen? Und ab wann ging es dann alles schief, alles, was nur schiefgehen konnte? Ich sollte all das zerstören, vernichten, makulieren und stelle mich jetzt ans Fenster, von wo aus ich den Blick auf glückliche, unausrottbare Menschen auf dem Weg zur Arbeit, in den Urlaub, zu Festen genießen kann, ich sehe den Blumenhändler, der Sträuße hineinträgt, und einige Jugendliche, nein, noch Kinder, mit merkwürdigen hohen Frisuren und erhitzten Gesichtern.
Kommt zu mir, bevor es zu spät ist. Es ist immer schon zu spät, bevor du es weißt. Und diejenigen, die zu mir kommen, sie kommen zu spät, auch wenn sie rechtzeitig kommen.
Wer ist der Netteste hier in dieser Straße?
Das ist der Doktor Hval.
Und wer ist der Verrückteste hier in der Straße?
Das ist auch der Doktor Hval.
Ich setze mich und fange wieder an oder fahre dort fort, wo ich aufgehört habe, ich streiche und schreibe, müde, wie alte Männer müde werden, auf eine sonderbare, klare Art, wenn sie auf ihr versäumtes Leben zurückschauen: Die Hand wird zu einer Lupe, und zwischen den Fingern ist alles zum Besseren und Schlechteren vergrößert.
Hier, zum Teufel, seht nur, seht!
Ich lag also im Bett im Skovveien neben Sigrid, ziemlich erschöpft nach diesem Satz und Spiel. Es war August 1929, spätabends, fast nachts, das Fenster stand offen, die Gardinen flatterten im Zimmer, und wir konnten die schmatzenden Geräusche der Stadt hören. Sie war glücklich, alles andere wäre nicht wahr, mit so einer Zukunft, von der sie noch nichts wusste, nur dass sie hell und voller Feste, Tennis, Drinks und Hotelzimmer war, über die ich, ihr Feuerzähnchen, solange es währte, nun erzählen kann, was sie niemals wird hören, sehen oder erinnern können, glücklicherweise, wie ich wohl sagen darf.
Psst.
Weckt Sigrid nicht auf.
Ich dagegen konnte nicht schlafen, nachdem ich von ihr so in die Mangel genommen worden war. Eine Unruhe hatte sich nämlich breitgemacht in dem Glück, eine Unruhe, die bald zu einer Besessenheit werden sollte. Denn wir, die Kantigen, tun nie nur ein wenig von etwas, wir tun alles oder nichts, und wenn wir erst einmal alles getan haben, dann hören wir nicht auf, sondern tun es noch einmal, und so geht es immer weiter. Deshalb stand ich auf und schlich mich ins Arbeitszimmer und setzte mich an denselben Tisch, an dem ich jetzt sitze, fest entschlossen, diese Festschrift und Grabrede, sowohl das eine als auch das andere, zu vollenden, und sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Ich bekam nämlich Notto Fipp nicht aus meinen Gedanken. Er war dabei, meine neue Besessenheit zu werden. Ich holte einen Atlas heraus und maß die Entfernung bis Evje, Notto Fipps Ziel, und anschließend denselben Weg bis Oslo. Aber wie schnell ging er? Schließlich stolzierte er nicht gerade. Ich sah ihn vor mir und konnte aus der Erinnerung konstatieren, dass sein Gehen schneller war als üblich, ich nahm an, dass er sechs, vielleicht sieben oder acht Kilometer in der Stunde zurücklegte, und mittels einfacher Kopfrechnung kam ich zu dem Schluss, dass Notto Fipp sich in zwei Tagen zwischen Drammen und Oslo befinden würde. Was mir Sorgen bereitete. Wenn er nicht genügend Flüssigkeit bekam, konnte er hinter der nächsten Kurve umfallen. Je mehr ich daran dachte, umso unruhiger wurde ich. Hatte ich nicht eine Pflicht zu erfüllen? Hatte ich nicht einen Eid abgelegt? Aber was sollte ich tun? Vorläufig konnte ich gar nichts tun. Stattdessen blieb ich bis zum hellen Morgen sitzen und dachte über das Wesen des Gehens nach, diese einfache, aber so entlarvende Bewegung, bei der sich der Körper mit Hilfe der Muskelkraft der Beine von einem Punkt zum anderen fortbewegt. Oh, ist nicht die Geschichte der gesamten Menschheit in diesem Fortschritt versammelt, den Notto Fipp zur reinsten Kunst erhob? Vielleicht lag ja in diesem Stoff mein Doktortitel und nicht in normalen Stinknasen. Was erzählte das Gehen über das einfache Individuum und den Menschenschlag? Was unterscheidet beispielsweise die Gangart des Bauern von der des Industriearbeiters? Was macht die Physiognomie der Frau, ihre breite Beckenpartie, aus ihrem Gehen im Vergleich zu dem des Mannes? Gehen Phlegmatiker anders als Choleriker? Ob wohl arme Leute eine andere Art haben, ihre Beine zu nutzen, als die Gutsituierten? Bewegen sich Sozialisten anders fort
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