Die Unseligen: Thriller (German Edition)
die Wangen. Sie drückte die Hand auf den Mund, um das Schluchzen zu ersticken und das heftige Pochen ihres Herzens zu dämpfen. Durch den Tränenschleier hindurch sah sie über sich das winzige Loch in der Windschutzscheibe.
Der Motor surrte noch immer, und sie hätte nur aufs Gaspedal treten müssen, um ihre Flucht fortzusetzen. Aber wie vielen Kugeln konnte sie noch ausweichen? Sie hatte erst einen Kilometer zurückgelegt, doch schon hatte sie das Gefühl, ans Ende der Welt gefahren zu sein, vielleicht darüber hinaus. Der Pick-up kam näher, jetzt hörte sie ihn. Seine Scheinwerfer glänzten stärker auf den Chromteilen des Armaturenbretts. Megan wollte sich aufrichten, in sich jene Kraftreserven mobilisieren, die einem Beutetier erlauben, weiter und weiter zu fliehen. Aber sie konnte nicht mehr.
Als Umarus Männer die Tür öffneten, fanden sie sie zusammengekrümmt, von Krämpfen durchzuckt und mit fiebernasser Stirn. Sie zogen sie aus dem Fahrgastraum heraus, ohne ihr Gewalt anzutun. Sie ließ sich ins Gras legen und mit Kunststoffkabeln fesseln. Der schwere Geruch der Erde raubte ihr den Atem, der der wilden Kräuter benebelte sie.
Wie ein Sack Zement wurde sie aufgehoben und auf die Ladefläche des Pick-ups gelegt. Der Erdgeruch verflüchtigte sich, an seine Stelle trat der stechende Geruch nach Rost. Die bewaffneten Männer setzten sich um sie herum und sahen sie seltsam an. In ihren Augen funkelte eine eigenartige Mischung aus Wut und Mitleid. Sie fragte sich, ob man so empfand, bevor man jemanden umbrachte. Sie vermutete, dass es so war.
119
Eingelullt von der Brise, warteten sie schweigend. Die Sohle eines Stiefels drückte die rechte Schläfe Megans gegen den Boden der Pritsche und schränkte ihr Gesichtsfeld dadurch auf schwarze Stiefelpaare und Gewehrkolben ein. Über ihr schwebte der Rauch des Joints, den die Söldner von Hand zu Hand gehen ließen. Einer von ihnen summte eine Melodie, die vom Knattern der Motoren unterbrochen wurde.
Türen wurden zugeschlagen. Umarus Männer packten sie an der Schulter und zwangen sie dazu, sich aufzurichten. Sie sah, wie der Albino mit einer Waffe in der Hand aus dem Wagen stieg. Hinter ihm, auf der Rückbank, erkannte sie Naïs und einen weißen Mann, dessen Gesicht vom Halbdunkel verschluckt wurde.
»Ihr Verhalten enttäuscht mich«, sagte Umaru und kam langsam näher. Megan schlug die Augen nieder, sie konnte den Anblick der Waffe nicht ertragen. Er blieb auf ihrer Höhe stehen.
»Schauen Sie mich an.«
Der Söldner zu ihrer Linken packte ihr Kinn und zwang sie dazu, den Kopf zu heben. Sie biss die Zähne zusammen, als sie spürte, wie sich die Fingernägel in ihre Wangen bohrten. Umaru blickte sie eine ganze Weile an, ehe er den Arm hob. Die Waffe stoppte zwischen Megans Brauen. Sie starrte auf den Lauf und zitterte am ganzen Körper, dann setzte der Albino die Mündung der Glock vorsichtig auf ihre Haut.
Der Schuss zerriss ihr das Trommelfell. In ihrem Schädel hallte der Knall als ein dumpfes Brummen wider.
Hervorschießende Tränen trübten ihre Sicht. Ein warmes Gefühl im Unterleib. Schwarze Blitze hinter den Augen. Sie hörte fernes, gedämpftes Gelächter, und das warme Gefühl wanderte ihre Schenkel und Waden hinab.
Umaru Atocha beobachtete sie mit nach oben gestrecktem Arm. Seine Männer lachten höhnisch über die junge Frau und den Urinfleck auf ihrer Hose.
»Das nächste Mal ziele ich nicht in die Luft«, sagte der Albino. »Blinzeln Sie, wenn Sie mich verstanden haben.«
Der Söldner, der sie gegen seinen Oberkörper drückte, ließ sie los. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Seite. Das Gelächter wurde lauter.
»Was haben Sie mit mir vor?«
»Sie werden bei uns bleiben und sich um Naïs kümmern. Pater David wird Ihnen dabei helfen.«
Die ersten Strahlen des Morgengrauens erhellten das Gesicht des alten Mannes, der im Fond des Wagens saß und betete.
»Sie werden sie pflegen«, fuhr Umaru fort. »Sie werden sie ernähren. Sie werden sie schützen und sie lieben, als wäre sie Ihre eigene Tochter.« Er entfernte sich und gab seinen Männern das Signal zum Aufbruch. »Noch etwas«, sagte er, sich zu ihr umwendend, »wenn Naïs leidet, leiden Sie auch … «
Megan fragte sich, wie der Priester noch an Gott glauben konnte.
»Und wenn sie stirbt, dann sterben Sie auch.«
Zeitungsausschnitte
2009
1. August, FREE DELTA NEWS
Erste offizielle Erklärung von Henry Okah
seit seiner Freilassung!
»Der nigerianische Staat
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