Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Sonne blendete ihn, sodass er nicht erkannte, was auf der Straße geschah.
Die Frau schrie, als er sich auf sie stürzte und sie an den Haaren packte, um sie hochzuziehen. Er riss ihren Kopf so heftig nach hinten, dass die Wirbel knackten.
»Siehst du, wozu du mich gezwungen hast? Häh?«, brüllte er ihr ins Ohr.
Er schmetterte ihr Gesicht gegen die durchsiebte Wand und rieb seinen Bart an ihrer Wange.
»Siehst du es?«
Sie bohrte ihre Fingernägel in den Unterarm von Okah. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen aus den Augenhöhlen hervorzutreten.
»Antworte! Siehst du es?«
Ihre Nasenflügel zitterten, aber ihre Atmung schien wie gelähmt.
»Ja … ja … «
Von ihren Mundwinkeln troff Speichel herunter.
»Ich frage dich jetzt noch einmal: Wo ist dieser Mistkerl von Adua…«
Er hielt inne, den Namen Aduasanbi auf den Lippen. Das Heulen eines Kindes verband sich mit dem Lied, das hinter der Wand ertönte.
Die Frau schlug derart heftig um sich, dass sie ein Büschel Haare in der Hand von Okah zurückließ. Sie drückte sich gegen die von Kugeln durchsiebte Mauer.
»Mama … «
»Mein … mein Schatz!«, schrie sie.
Sie wollte zur Tür stürzen. Okah packte sie an der Kehle und zog sie zurück. Trotzdem hatte sie flüchtig gesehen, wie ihr Sohn neben dem leblosen Körper ihrer Tochter in einer Blutlache stand.
»Zwing mich nicht dazu, ihn zu töten«, sagte Okah, während er den Lauf seiner Pistole gegen die Wand hielt.
»Der Tschadsee … «
Er hörte sie kaum, sein Gehör war noch halb taub von den Echos der Wut, die in dem Zimmer widerhallten. Er lächelte sie traurig an.
»Mein Mann … «
Sie wagte es nicht, seinen Namen auszusprechen, da dieses schlichte Wort ihren Verrat noch schmerzlicher gemacht hätte.
»Yaru will nach Kamerun … er wird über den Tschadsee übersetzen … «
»Warum der Tschadsee?«
»Das Mädchen, das bei ihm ist … Es ist krank … an der Grenze, in der Stadt Baganako, gibt es eine Klinik, die von einer Nichtregierungsorganisation betrieben wird … Mehr weiß ich nicht.«
Der Abschied
»Lebe wohl, deiner Eurydike erinnere dich … «
Christoph Willibald Gluck,
Orpheus und Eurydike
70
Megan schlief noch, als er ans Fenster trat, um sich seine erste Zigarette anzuzünden. Durch die schmutzige Scheibe betrachtete Benjamin das graue und rosafarbene Morgenlicht einer Sonne, die zögerte, über dem Flüchtlingslager aufzugehen.
»Damasak … «, murmelte er.
Er hatte geträumt, er wäre woanders. Weder in Frankreich noch an einem idyllischen Strand des Indischen Ozeans, einfach woanders. Und dieser Traum vernebelte noch seine Gedanken, sein Unbewusstes wollte noch nicht loslassen, widersetzte sich noch ein wenig dem klaren Bewusstsein, das sich der Alltagswirklichkeit stellt.
Megan stöhnte im Schlaf und wälzte sich hin und her. Benjamin setzte sich an die Bettkante und betrachtete sie. Er konnte nicht glauben, dass die Nacht schon vorüber war. Er schlug das Betttuch ein wenig zurück, um ihre schön geschwungene Taille, ihre wohlgerundeten Brüste und die zarte Blässe ihrer Haut zu betrachten; diese Haut, deren Beschaffenheit und Farbton sich im Licht der aufgehenden Sonne veränderten, wenn man genau hinsah. Die Farbe der Haut, die an den Armen und im Gesicht Megans goldbraun war, wurde an den Schultern kupferfarben, fast braun am Hals und an Brust und Bauch sahnig weiß, ehe sie sich am Schamansatz verdunkelte.
Für einen Mann seines Alters besaß der nackte Körper einer dreißigjährigen Frau eine ganz besondere Schönheit, und Megan bildete keine Ausnahme von dieser Regel. Eine atemberaubende Schönheit, deren harmonische Ausgewogenheit beinahe etwas Beunruhigendes hatte.
Er beherrschte sich, um sie nicht zu berühren. Aber das Bedürfnis, sich davon zu überzeugen, dass sie keine Erscheinung war, veranlasste ihn dazu, seine Finger in Erwartung ihres nächsten Atemzugs nur wenige Millimeter über diesem Körper umherschweifen zu lassen.
Indem Benjamin mit Megan geschlafen hatte, war er der Frage ausgewichen, weshalb sie sich überhaupt für ihn interessierte. Danach hatten sie, unter dem Laken zärtlich umschlungen, diskutiert, bis sie das Gefühl gehabt hatten, dass ihre Körper schwer wie Steine geworden waren. Er hatte ihr auch von seiner Kindheit in Clichy erzählt, von den wenigen Frauen, die er kennengelernt hatte, und den noch weniger Frauen, die er geliebt hatte. Er hatte ihr Sarajevo und die Betondschungel dieser Stadt beschrieben; sie
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