Die Unseligen: Thriller (German Edition)
die Frage nachzudenken.
Sie fuhren durch ein Katastrophengebiet, wo Müllhalden und zerfallene Gebäude einen gespenstischen Archipel bildeten. Auf den mit Graffiti besprühten Gerüsten waren immer die gleichen Ermahnungen, die gleichen Hassbotschaften zu lesen, die sich an die Vertriebenen richteten. Nachdem sie dieses Niemandsland hinter sich gelassen hatten, entdeckte Megan die unermesslichen kargen Ebenen, die sich dem Auge darboten.
So weit man sah, nichts als verbrannte Erde von strahlender Weiße, ähnlich einer Salzwüste. Verdorrte Pflanzenreste und braune Sandgestöber peitschten dicht über dem Boden die Silhouette eines Maulesels, der genauso unbeweglich dastand wie der Fels, den er zu bewachen schien.
Sie fuhren lange, ohne einem einzigen Lebewesen zu begegnen – weder Mensch noch Vieh. Kein Vogel, keine Pflanze erhob sich zum Himmel. Nichts als nackte und flache Felsen und manchmal ehemalige Bewässerungskanäle, die seit Ewigkeiten ausgetrocknet waren.
Plötzlich tauchte in der Ferne am Rand der Piste eine Kapelle auf. Der Fahrer bremste ab, als er sich dem kleinen Gebäude näherte, das in dem Glast so stark zu zittern schien, dass es förmlich schwebte – durch irgendwelche unerklärlichen Erschütterungen über das Geröllfeld hinausgehoben.
Der Kalk der Fassade warf das Licht zurück wie eine zweite Sonne, die vom Himmel heruntergenommen worden war.
Inmitten dieses Flirrens erkannten Megan und der Fahrer ein verkohltes schwarzes Kreuz. Dieses Symbol hatte nichts Religiöses mehr, es besaß höchstens noch Ähnlichkeit mit einem Totem, einem Überrest eines vergessenen, fernen Zeitalters.
Megan dachte an die Kriege, die Muslime und Christen seit der Anwendung der Scharia in diesen Regionen gegeneinander geführt hatten. In den Nachrichten hatte sie die barbarischen Bilder der Zusammenstöße gesehen, die das Land verwüsteten. Die spektakulärsten davon hatten 2001 in Jos und 2004 in Yelwa stattgefunden.
Die Muslime hatten etwa dreißig Kirchen und mehrere Hundert Geschäfte, die Christen gehört hatten, in Brand gesetzt. Sechs Kinder waren bei lebendigem Leib verbrannt und Dutzende weitere mit Macheten zerhackt worden. In Onitsha, im Süden, waren die Gewalttätigkeiten durch die Ankunft eines Lkws ausgelöst worden, der mit den Leichen von Christen beladen war, die in Maiduguri getötet worden waren. Daraufhin hatten die dortigen Christen blutige Rache genommen.
Ja, sie erinnerte sich an diese Bilder, an diese Kämpfe aus einer anderen Zeit, an die Leichen, die im Licht von Baustellenscheinwerfern in Müllcontainern übereinandergestapelt und von einem Mann in weißer Soutane gesegnet wurden, aber vor allem erinnerte sie sich an die Menschenmenge, die vor den rauchenden Trümmern einer Kirche gejubelt, getanzt und gelacht hatte.
73
An die Mauer der Kapelle gelehnt, tupfte sich Umaru Atocha Stirn und Nacken ab. Die Wüste schimmerte, nur das Flirren über dem Boden störte die weiße Reglosigkeit. Im Norden verschleierten rote Haufenwolken, die zweifellos von einer durchziehenden Viehherde aufgewirbelt wurden, den Horizont wie ein mit dem Daumen verwischter Rötelstrich.
Bald sind alle Figuren auf dem Schachbrett aufgestellt, dachte er.
Da Naïs krank war, würde Aduasanbi als Nächstes ein Krankenhaus aufsuchen, denn dieses Kind war so wertvoll, dass alles andere abwegig war.
Die Frage war nur, welches Krankenhaus.
Er entfaltete eine Karte der Region. Er musste sich beeilen, wenn er eine Chance haben wollte, Henry Okah zuvorzukommen.
Als er am späten Vormittag von der Freilassung des Chefs der MEND erfahren hatte, hatte er sich nicht in Hypothesen verlieren müssen, um zu erraten, welche Abmachung die Regierung und Okah geschlossen hatten: seine Freiheit gegen Naïs, seine Freiheit gegen die Kugel, die er Aduasanbi in den Kopf jagen würde. Die bloße Erwähnung des Namens Henry Okah versetzte ihn Jahre zurück, genau in jenen Moment, wo Yaru Aduasanbi mit Naïs auf den Armen aus der MEND ausgestoßen worden war.
Er hatte so etwas nicht für möglich gehalten, aber er hatte eine alles entscheidende Tatsache außer Acht gelassen: Die Guerillakämpfer der MEND waren naive, abergläubische Bauern. Ihm wurde mit einem Mal klar, dass ihr Respekt für Aduasanbi nur oberflächlich ein natürliches Misstrauen kaschierte, das darauf zurückzuführen war, dass sie im Grunde nicht verstehen konnten, warum ein Intellektueller, ein Universitätsprofessor, alles aufgegeben hatte, um für
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