Die unsichtbare Handschrift
sehen!«
»Ich glaube, er hat mich gehört«, sagte Kaspar aufgeregt und schloss Esther, die zu ihm gelaufen war, in seine Arme. »Er wird uns herausholen.«
»Wenn er will«, wandte Magnus ein. Noch immer stand er oben auf dem Haufen Mehlsäcke.
»Natürlich will er! Ich bin so froh, dass er lebt.«
Er hielt sich in der Öffnung über ihm fest, sprang ab und versuchte sich ganz nach oben zu ziehen. Doch dafür hätte der Stapel höher sein müssen. Es gelang ihm nicht. Im Gegenteil, der oberste Sack geriet ins Rutschen, so dass Magnus nun noch höher hätte springen müssen. Er musste aufgeben.
»Hast du sonst noch jemanden gesehen?« Esther blickte ihren Bruder voller Hoffnung an.
»Nein, nur Norwid.«
Vitus hatte die ganze Zeit gerufen und beide Arme durch das Loch gesteckt und gewinkt. Jetzt zog er die Hände zurück und lugte nach draußen.
»Norwid ist wieder ins Haus gelaufen. Aber sein Vater ist auf dem Weg hierher!«
»Gott sei’s gedankt!« Esther wischte sich eine Träne ab, die ihr über die Wange lief.
Sie mussten nicht lange warten, bis sie Schritte auf der Stiege hörten. Ein Quietschen und Ächzen, dann war der Riegel beiseitegezogen, und die Tür ließ sich öffnen.
»Wer hat das nur getan?«, fragte der Müller. Seine Wangen waren gerötet, Schweiß und Ruß standen ihm auf der Stirn.
»Ist Bille in Sicherheit?«, wollte Kaspar wissen, während sie alle gemeinsam die Stiege hinunterrannten.
»Norwid kümmert sich um sie. Wir haben versucht die Mühle zu retten. Das ist doch alles, was wir haben!«
Draußen wurde Esther das ganze Ausmaß der Katastrophe mit einem Schlag bewusst. Sie hatte nicht wie die beiden Männer schon einen Blick durch den kleinen Ausguck geworfen. Umso größer war ihr Entsetzen. Die Mühle stand in hellen Flammen. Schon waren die Flügel nur noch glühende Gerippe, aus denen das Feuer züngelte und leckte. Auch aus dem Dach schlug bereits die Glut. Zwar saß es noch wie ein Hut auf dem Gebäude, allerdings sah es nicht aus, als könnte es noch lange standhalten. Immer weiter fraßen sich die Flammen nach unten. In der Stube konnte es unmöglich ausgebrochen sein, überlegte sie. Da sah sie Norwid, der Bille auf den Armen trug. Ihr Bein mit der angebundenen Holzleiste stand in einem eigenartigen Winkel ab, ihre Arme hingen schlaff.
»Guter Gott, lebt sie?«, wisperte Kaspar ängstlich. Norwid ging wortlos an ihnen vorbei und legte seine Schwester so weit von der Mühle entfernt ins Gras, dass er sicher sein konnte, hier würde ihr nichts geschehen.
»Willst du nicht nach ihr sehen?«, forderte Esther Kaspar auf.
»Meinst du?«
Sie nickte und rang sich ein Lächeln ab, was ihr angesichts der Verwüstung nur mäßig gelingen wollte. Dennoch war sie froh, Kaspar ein wenig abgelenkt und beschäftigt zu wissen. Auch war es für Bille sicher gut, wenn jemand bei ihr war.
Vitus legte einen Arm um sie. Neben ihm stand Magnus. Norwid trat zu ihnen. Sie waren wie versteinert. Nur der alte Müller nicht.
»Wir müssen etwas tun, wir müssen es aufhalten«, schrie er.
»Zu spät«, gab Norwid tonlos zurück.
Sein Vater dagegen stürzte los zum Brunnen. »Holt mehr Eimer!«, rief er, während er den Bottich, der am Rand des Brunnens gestanden hatte, hinabfallen ließ und gleich darauf gefüllt hinaufhievte.
»Es hat keinen Sinn, die Mühle ist nicht zu retten.« Norwid klang erschöpft.
»Versuchen wir es!« Vitus rannte los. Im Lauf fragte er, wo er mehr Behälter finden könnte. Noch immer rührte sich Norwid nicht vom Fleck. Auch Magnus schüttelte den Kopf, als könnte er die absonderlichen Versuche der beiden nicht verstehen.
Esther begann zu zittern, obgleich ihre Wangen von der Hitze des Feuers glühten. Sie sah zu dem stallartigen Anbau, in dem sie einige Stunden geschlafen hatten. Der Ostwind, der bereits am Tag gehörig Kraft gehabt hatte, blies nun noch heftiger. Er frischte immer mehr auf und trieb Funken durch die Luft. Es sah aus, als würde der ganze Himmel lodern. Das Dach, über das Magnus zu fliehen versucht hatte, stand inzwischen ebenfalls in Flammen, die Mühle brannte lichterloh. Es mutete nahezu lächerlich an, wie Vitus und der Alte diese kleinen Mengen Wasser gegen das glühende Holz kippten, als versuchten sie mit einem einzigen Schluck den Durst eines ganzen Tages zu löschen. Sie liefen einige Male hin und her, dann hielt Vitus den Müller auf. Dieser aber riss sich los, hetzte erneut zum Brunnen, füllte seinen Eimer und hastete mit ihm
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