Die unsterbliche Braut
Sie wusste, was er vorhatte, bevor er es tat, doch ihre Warnung half mir nicht. Sanft drückte Henry seine Lippen auf Persephones Wange, und als Persephone den Kuss erwiderte, überrollte mich eine Woge der Übelkeit.
„Komm“, sagte meine Mutter zu mir. Weder Henry noch Persephone hatten einen zweiten Blick für uns übrig, als sie mich durch das Foyer in den Flur führte und mir einen Arm um die Schultern legte. „Es ist sehr lange her, dass die beiden sich gesehen haben.“
„Ich weiß“, wisperte ich, doch das machte den Schmerz nicht weniger schlimm. Allein einen Fuß vor den anderen zu setzen war Folter, doch ich ging weiter, musste so viel Abstand zwischen ihnen und mir schaffen, wie nur möglich war. Als wir das Schlafzimmer erreichten, zögerte ich, doch meine Mutter öffnete die Tür trotzdem.
„Du musst dich ausruhen“, meinte sie und führte mich zum Bett. Ich wollte mich wehren, aber sie sah beinah so zerbrechlich aus wie damals, als sie gegen den Krebs gekämpft hatte, und wieder breitete sich in mir die unbezähmbare Angst davor aus, sie zu verlieren. Ich hatte keine Chance.
„Du aber auch“, erwiderte ich bestimmt. Ich ließ mich auf die Bettkante sinken, aber mehr würde ich ihr nicht zugestehen, bis sie selbst es auch ruhiger angehen ließ. „Setz dich.“
Sie widersprach nicht. Gemeinsam rollten wir uns auf dem Bett zusammen, wie wir es schon Tausende Male getan hatten, wann immer ich als Kind Angst bekommen oder mich einsam gefühlt hatte. Oder als sie krank geworden war und ich den Gedanken nicht hatte ertragen können, sie eine ganze Nacht lang allein zu lassen. Ich hatte solche Angst gehabt, sie könnte die Augen schließen und nie wieder aufwachen. Dieses Gefühl war nur schwer mit dem Wissen zu vereinbaren, dass sie unsterblich war und erst dann vergehen würde, wenn sie in der Welt keine Aufgabe mehr hätte. Oder wenn Kronos sie tötete. Und ich würde bis aufs Blut kämpfen, bevor ichnoch einmal zuließ, dass er jemandem wehtat, den ich liebte.
Lange Zeit lagen wir so da, während die Welt um uns herum stillzustehen schien. Ich zählte ihre Atemzüge, und sie streichelte mir sanft den Rücken. Einen Moment lang schaffte ich es, zu vergessen, dass wir uns in der Unterwelt befanden. Ich stellte mir vor, wir wären in New York, eine Mutter und ihre einzige Tochter, an denen nichts Besonderes war. Ich würde mittlerweile an der NYU studieren oder vielleicht an der Columbia. Wenn meine Mutter nicht krank geworden wäre, hätte ich vielleicht jemanden kennengelernt, Henry hätte mir nie das Herz gebrochen, und ich hätte niemals erfahren müssen, wie es war, im Schatten meiner Schwester zu leben.
Ich hätte glücklich sein können. Mein Leben wäre normal und unspektakulär verlaufen. Und wenn ich gestorben wäre, wäre ich an diesen Ort gekommen – nur eine weitere Seele, über die Henry wachen könnte.
Sosehr ich mir das auch wünschte, ich wusste, dass es nur eine Fantasie war. Wären Henry und Persephone nicht, hätte es mich nie gegeben. Was auch passiert wäre, wie ich mich auch entschieden hätte, mein Leben wäre niemals einfach gewesen. Selbst wenn ich nie erfahren hätte, dass Götter wirklich existierten, hätte meine Mutter den Krebs nicht überlebt, und ich wäre einsamer gewesen, als ich es jetzt war.
Mit Henry war mein Leben anders. Ich hatte eine Aufgabe. Aber niemand hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob es das Leben war, das ich führen wollte. Niemand außer James.
Welche Entscheidung ich auch immer traf, mit der seelenzerreißenden Liebe, die Henry für Persephone empfand, konnte ich nicht mithalten. Und jetzt, wo er sie zurückhatte …
Ich wusste nicht mehr, was die richtige Entscheidung wäre.
„Mom?“, flüsterte ich. „Warum hast du mich auf die Welt gebracht, wenn ich immer nur ein Ersatz für Persephone sein sollte?“
Sie öffnete die Augen, und einige Sekunden lang erwiderte sie nichts. Es verstrich genug Zeit, dass ich fürchtete, sie würde garnicht antworten, doch schließlich küsste sie mich auf die Stirn. „Glaubst du wirklich, dass du nicht mehr für mich bist als ein Ersatz für deine Schwester?“
Stumm nickte ich. Ich wollte es nicht glauben, aber nach allem, was geschehen war, nach so langer Zeit voller Zweifel, konnte ich nicht anders.
Meine Mutter seufzte. „Wenn wir ein ernstes Gespräch führen wollen, dann lass uns uns vorher wenigstens ein bisschen frisch machen.“
Sie glitt vom Bett und verschwand in meinem
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