Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
fällt es immer noch schwer zu akzeptieren, dass sein Freund und Kollege auf solch grausame Weise ums Leben kam. »Es ist unbegreiflich«, sagt er. »Wenn man sich hätte jemanden wünschen können, der dieses Heilmittel entdeckt, dann wäre es Graham gewesen. Er war kein machtverliebter Wissenschaftler, der darauf aus war, die Welt zu zerstören. Er war integer, und er handelte selten, ohne sich vorher über die Konsequenzen seines Handelns Gedanken zu machen. Das Heilmittel war bei ihm in sicheren Händen. Ich glaube nicht einmal, dass er es sich selbst verabreicht hat. Die Tatsache, dass ihn jemand überfällt und ihn und sechs weitere intelligente, wundervolle Menschen ermordet, ist einfach so … Es nimmt mir den Glauben an die Menschheit, einen Glauben, den mir Menschen wie Graham gegeben haben. Er ist nicht mehr hier, um uns zu helfen, richtig mit der Sache umzugehen, und das ist ein großer Nachteil für uns.«
Zwei Stockwerke über der Stelle, an der der Van ausbrannte, führt ein Fenster von Ottos Labor direkt auf den Parkplatz hinaus. Auf dem Fensterbrett steht ein sehr kleines Glasgefäß, in dem sich fünf Fruchtfliegen befinden – fünf ganz besondere Fruchtfliegen, die Graham Otto, den verzweifelten Mann mit roten Haaren, zu dem vielleicht bedeutendsten Wissenschaftler in der Geschichte der Menschheit gemacht haben. Sie waren die ersten Lebewesen auf dieser Erde, die von Otto das Heilmittel gegen den Tod bekommen hatten, und sie waren unter den letzten, die ihn lebend zu Gesicht bekommen haben.
GEÄNDERT AM:
05.07.2019, 21:17Uhr
»Wie konntest du nur so blöd sein?«
Ich musste raus aus Manhattan. Hier wurde ich ständig von Katy verfolgt, und ich hatte es auch nicht anders verdient. Ich sah sie in der Küche, ich sah sie neben dem Fernseher, ich sah, wie sie aus dem Fenster stürzte. Bald schon schwirrten so viele ihrer Geister um mich herum, dass sie mich zu verschlingen drohten. Ich hatte allen Grund zu der Annahme, dass ich den Verstand verlieren würde, sollte ich noch länger hier bleiben. Ich würde meine Schwester besuchen.
Zum Glück musste ich nicht jeden Tag zur Penn Station. Ich war überrascht, dass die jüngsten Ereignisse offensichtlich dazu beigetragen hatten, dass es in der Penn Station noch schlimmer zuging als jemals zuvor. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass es überhaupt noch schlimmer werden konnte. Es schien mir eigentlich immer schon furchtbar genug. Doch ich hatte mich geirrt.
Es war ein regelrechter Exodus. Man musste sich in einer Schlange anstellen, bloß um in den Bahnhof zu gelangen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. An jedem Eingang stand ein Brandschutzbeauftragter, der die Reisenden zurückhielt, bis eine bestimmte Anzahl den Bahnhof verlassen hatte. Sie ließen eine Handvoll Menschen hinein, dann wurden die Eingänge wieder dicht gemacht. Es war, als versuchte man, in einen Nachtclub zu kommen. Ich hatte vorgehabt, mit dem Zug um sechs Uhr dreißig abzufahren. Die Züge fuhren jede halbe Stunde, also dachte ich mir, dass ich immer noch den Zug um sieben nehmen konnte, falls ich den früheren versäumte. Ich würde einfach mit einer großen Dose Budweiser in den Zug springen, und schon wäre ich weg. Ich erwischte gerade noch den um zehn Uhr dreißig.
Es war etwa Mitternacht, als ich schließlich ankam. Meine Schwester wartete auf mich. Sie sah müde aus, doch sie hat zwei Kinder, also nehme ich an, dass sie um Mitternacht genauso aussieht wie zu jeder anderen Tageszeit auch. Polly existiert in einem fortwährenden Stadium der Benommenheit, die Bürde der Mutterschaft lastet schwer auf ihr, und ihr Schlafdepot rutscht immer weiter ins Minus, so dass sie nie mehr den Zustand vollkommenen Wachseins erreichen wird. Ich hatte meinen Vater eigens darum gebeten, ihr nicht zu erzählen, was ich getan hatte, denn ich wusste, dass sie mir deswegen ein schlechtes Gewissen einreden würde. Und ich hatte bereits genug gelitten, denn immerhin hatte ich vier Stunden in der Penn Station verbracht und war schließlich in einem Zug gelandet, der so überfüllt gewesen war, dass man kein Ein-Cent-Stück zwischen die Körper der Menschen hätte quetschen können. Doch als ich sie schließlich sah, dachte ich mir, dass ich es genauso gut gleich hinter mich bringen konnte. Wir fuhren zu ihr nach Hause, und sie schenkte mir einen Drink ein.
Ich rückte beinahe sofort mit der Wahrheit heraus. »Ich habe mich deaktivieren lassen.«
Sie wurde schlagartig wach (sie kann immer
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