Die Unsterblichen
»Betroffenheit« an Direktor Buckley weiterleitete), und obwohl ich mächtig in der Klemme saß (ich meine, in einer riesigen, gewaltigen »Du kannst dich darauf verlassen, dass das auf Dauer in deiner Akte vermerkt wird«-Klemme), gab es trotzdem diesen kleinen Teil von mir, der sie bewunderte. Diesen Teil, der seinen winzigen Kopf schüttelte und dachte:
Bravo! Super hingekriegt!
Denn trotz des Ärgers, den ich jetzt habe, nicht nur mit der Schule, sondern auch mit Sabine - Stacia hat nicht nur ihr Versprechen eingelöst, mich fertigzumachen, sondern sie hat es auch geschafft, hundert Dollar einzustreichen und den Nachmittag frei zu kriegen. Und das ist echt bewundernswert.
Zumindest auf eine berechnende, sadistische, fiese Weise.
Dank Stacias und Direktor Buckleys gemeinsamen Bemühungen muss ich morgen nicht zur Schule. Oder übermorgen. Oder am Tag danach. Was bedeutet, dass ich das ganze Haus für mich haben werde. Den ganzen Tag lang, jeden Tag, und dass ich jede Menge Freiraum haben werde, um weiterzutrinken und meine Trinkfestigkeit zu verbessern, während Sabine bei der Arbeit ist.
Denn jetzt, da ich den Pfad entdeckt habe, der zum Frieden führt, wird mir niemand im Wege stehen.
»Wie lange geht das schon so?«, will Sabine wissen. Sie weiß nicht genau, wie sie anfangen, wie sie mit mir umgehen soll. »Muss ich jetzt jeglichen Alkohol verstecken? Muss ich dir Hausarrest verpassen?« Sie schüttelt den Kopf. »Ever, ich rede mit dir! Was ist da vorhin passiert? Was ist los mit dir? Möchtest du, dass ich dich bei jemandem anmelde, mit dem du reden kannst? Denn ich kenne da einen ganz hervorragenden Psychologen, der sich auf Trauerhilfe spezialisiert hat.«
Ich kann spüren, wie sie mich ansieht, kann tatsächlich die Sorge fühlen, die ihr Gesicht ausstrahlt, doch ich schließe lediglich die Augen und tue so, als ob ich schlafe. Ich kann es unmöglich erklären, kann ihr unmöglich die ganze schäbige Wahrheit sagen, mit Auras und Visionen und Geistern und unsterblichen Ex-Freunden. Denn obwohl sie für die Party eine Hellseherin angeheuert hat, hat sie das als Witz gemeint, als Gag, als gruseligen, aber harmlosen Partyspaß. Sabine ist linkshirnig veranlagt, organisiert, strukturiert, sie operiert strikt mit Schwarz und Weiß und vermeidet jegliches Grau. Und sollte ich jemals dumm genug sein, mich ihr anzuvertrauen, ihr die wahren Geheimnisse meines Lebens zu offenbaren, dann würde sie mehr tun, als mich nur bei jemandem anzumelden, mit dem ich reden kann. Sie würde mich einweisen lassen.
Wie sie es versprochen hat, versteckt Sabine sämtliche alkoholischen Getränke, ehe sie wieder zur Arbeit fährt, doch ich warte einfach, bis sie weg ist, und schleiche dann die Treppe hinunter. Unten gehe ich in die Speisekammer und hole all die Wodkaflaschen, die noch von der Halloweenparty übrig geblieben sind, die, die sie ganz hinten verstaut und längst vergessen hat. Und nachdem ich sie in mein Zimmer hinaufgeschleppt habe, lasse ich mich auf mein Bett fallen, ganz hin und weg von der Aussicht, drei volle Wochen schulfrei zu haben. Einundzwanzig lange, wundervolle Tage liegen vor mir wie Futter vor einer überfütterten Katze. Eine Woche wegen meines Verweises und zwei wegen der günstig gelegenen Winterferien. Und ich habe vor, sie nach besten Kräften zu nutzen und jeden einzelnen langen Tag in einem wodkainduzierten Zustand des Benebeltseins zu verbringen.
Ich lehne mich gegen die Kissen und schraube den Verschluss auf, fest entschlossen, mir den Flascheninhalt einzuteilen, indem ich jeden einzelnen kleinen Schluck begrenze und dem Alkohol erlaube, ganz meine Kehle hinunterzurinnen und bis in meinen Blutkreislauf zu gelangen, ehe ich den nächsten Schluck trinke. Schütten, Kippen oder Riesenschlucke sind nicht erlaubt. Nur ein langsamer, stetiger Strom, bis mein Kopf allmählich klar wird und die ganze Welt heller ist. Bis ich zu einem sehr viel fröhlicheren Ort hinabsinke. Eine Welt ohne Erinnerungen. Ein Zuhause ohne Verlust.
Ein Leben, wo ich nur das sehe, was ich sehen soll.
NEUNUNDZWANZIG
Am Morgen des 21. Dezember tappe ich nach unten. Obwohl mir schwindlig ist, meine Augen verquollen sind und ich total verkatert bin, ziehe ich eine recht annehmbare Show mit Kaffeekochen und Frühstückmachen ab, weil ich will, dass Sabine in der Überzeugung zur Arbeit fahrt, alles wäre in bester Ordnung. Damit ich wieder in mein Zimmer gehen und erneut in meinem Flüssignebel versinken
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