Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
selbst angebauten Lebensmitteln. Als Kind richtete George in dem Hügel hinter seinem Elternhaus ein kleines Bergwerk ein. Jeden Morgen kroch er mit einer Spitzhacke durch den feuchten Tunnel und füllte für seine Familie und die Nachbarn Kohle in Eimer, damit die Öfen brannten und die Häuser warm blieben. Bis zum Biologieexamen verdiente sich Gey sein Studium mit Zimmermanns- und Maurerarbeiten und lernte, fast alles Nötige sehr billig oder ganz umsonst herzustellen. Im zweiten Jahr seines Medizinstudiums rüstete er ein Mikroskop mit einer Zeitrafferkamera aus, um lebende Zellen zu filmen. Das Gerät war ein frankensteinähnlicher Mischmasch aus Mikroskopteilen, Glas, einer 16-Millimeter-Kameraausrüstung von werweißwoher, Metallteilen und alten Motoren von Shapiros Schrottplatz. Er baute es in ein Loch ein, das er unmittelbar unter der Leichenkammer in die Fundamente der Johns Hopkins University gesprengt hatte, und umgab es mit einer dicken Korkschicht, damit es nicht vibrierte, wenn die Straßenbahn vorüberfuhr. Nachts schlief eine litauische Assistentin neben der Kamera, lauschte auf ihr ständiges Ticken, sorgte dafür, dass sie die Nacht über stabil lief, und stand jede Stunde
auf, um das Bild scharf zu stellen. Mit dieser Kamera filmten Gey und sein Mentor Warren Lewis das Wachstum von Zellen, einen Prozess, der so langsam abläuft, dass man ihn mit bloßem Auge nicht verfolgen kann. Wenn sie den Film dann mit hoher Geschwindigkeit ablaufen ließen, konnten sie die Zellteilung als konstante Bewegung auf der Leinwand beobachten. Für das Medizinstudium brauchte Gey acht Jahre, weil er immer wieder aussetzen, auf der Baustelle arbeiten und Geld für das nächste Studienjahr zurücklegen musste. Nach dem Examen richtete er zusammen mit Margaret im Pförtnerhaus der Johns Hopkins University sein erstes Labor ein. Wochenlang taten sie nichts anderes als zu streichen, Kabel und Wasserleitungen zu verlegen, Tische und Schränke zu bauen. Den größten Teil davon bezahlten sie aus eigener Tasche.
Die vorsichtige, ausgeglichene Margaret war die Seele des Labors, George dagegen ein zu groß gewordenes, missmutiges Kind. Bei der Arbeit war er wie aus dem Ei gepellt, aber zu Hause lief er mit Flanellhemd, Khakihose und Hosenträgern herum. Er wälzte am Wochenende in seinem Garten Felsblöcke hin und her, konnte zwölf Maiskolben nacheinander essen und bewahrte in seiner Garage ganze Fässer voller Austern auf, damit er sie jederzeit verzehren konnte. Mit seiner Größe von 1,90 Metern und einem Gewicht von 97 Kilo hatte er den Körperbau eines pensionierten Linebackers, aber sein Rücken war nach einer Bandscheibenoperation so unnatürlich steif und aufrecht, dass er damit nicht mehr hausieren ging. Als eines Sonntags die Weinfabrik in seinem Keller explodierte und eine Flut aus prickelndem Burgunder sich durch seine Garage bis auf die Straße ergoss, spülte er den Wein in einen Gully und winkte dabei den Nachbarn zu, die gerade zur Kirche gingen. Gey war ein unverbesserlicher Visionär, spontan und immer auf dem Sprung, ein Dutzend Projekte gleichzeitig in Angriff zu nehmen. Er füllte das Labor und zu Hause seinen Keller
mit halbfertigen Maschinen, unausgegorenen Erfindungen und Haufen von Schrottteilen, für die keinem außer ihm eine Verwendungsmöglichkeit im Labor eingefallen wäre. Wenn ihm eine Idee kam, setzte er sich einfach irgendwo hin – an seinen Schreibtisch, den Küchentisch, eine Bar oder das Lenkrad seines Autos -, kaute an der unvermeidlichen Zigarre und kritzelte Diagramme auf Papierservietten oder die Rückseite abgerissener Flaschenetiketten. Auf diese Weise kam ihm die Idee zu seiner wichtigsten Erfindung, der Rollerkultur.
Dazu braucht man eine große Holztrommel, einen Zylinder mit Löchern für spezielle Reagenzgläser, so genannte Rollerröhrchen. Die Trommel, von Gey »Drehmaschine« genannt, drehte sich wie ein Zementmischer rund um die Uhr, aber so langsam, dass sie in einer Stunde nur zwei Umdrehungen oder noch weniger vollführte. Die Rotation war für Gey das Entscheidende: Er glaubte, das Kulturmedium müsse ständig in Bewegung sein wie das Blut und die anderen Körperflüssigkeiten, die die Zellen umspülen und sowohl Nähr- als auch Abfallstoffe transportieren.
Als Mary die Proben von Henriettas Gebärmutterhals schließlich zerkleinert und auf Dutzende von Rollerröhrchen verteilt hatte, ging sie in den Brutraum, steckte die Röhrchen nacheinander in die Trommel und
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