Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Blut, Plazentagewebe, Proben von Tumoren und toten Mäusen (außerdem enthielten sie mindestens eine Ente, die Gey vor mehr als zwanzig Jahren von einem Jagdausflug mitgebracht und hier eingefroren hatte, weil sie zu Hause nicht in die Kühltruhe passte). An einer Wand hatte Gey Käfige mit quiekenden Kaninchen, Ratten und Meerschweinchen aufgereiht; neben dem Tisch, an dem Mary ihr Mittagessen einnahm, standen Regale mit Käfigen, darin Mäuse, deren Leiber voller Tumore waren. Mary starrte sie beim Essen immer an, auch jetzt, als Gey mit den Stücken von Henriettas Gebärmutterhals in das Labor kam.
»Ich leg dir eine neue Probe an deinen Platz«, sagte er.
Mary tat, als bemerke sie ihn nicht. Nicht schon wieder , dachte sie und kaute weiter an ihrem Sandwich. Das hat Zeit, bis ich fertig bin.
In Wirklichkeit wusste Mary, dass sie nicht warten durfte. Mit jedem Augenblick wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass die Zellen in der Kulturschale abstarben. Aber sie hatte die Zellkulturen satt, hatte es satt, totes Gewebe sorgfältig abzuschneiden wie den Knorpel von einem Steak, hatte es satt, die Zellen nach stundenlanger Arbeit sterben zu sehen.
Warum mache ich mir diese ganze Mühe überhaupt?, fragte sie sich.
Gey hatte Mary wegen ihrer Hände eingestellt. Sie kam gerade mit einem Examen in Physiologie vom College, und ihr Betreuer hatte sie zum Bewerbungsgespräch geschickt. Gey bat sie, einen Bleistift vom Tisch zu nehmen und ein paar Sätze aufzuschreiben. »Jetzt nehmen Sie das Messer da«, sagte er. »Schneiden Sie dieses Blatt Papier durch. Drehen Sie mal die Pipette zwischen den Fingern.«
Erst Monate später wurde Mary klar, dass er ihre Hände beobachtet hatte. Er hatte ihre Fingerfertigkeit und Kraft geprüft, weil er wissen wollte, wie sie stundenlanges heikles Schneiden, Kratzen, Abklemmen und Pipettieren überstehen würden. Zu der Zeit, als Henrietta an die Johns Hopkins University kam, bearbeitete Mary die meisten Gewebeproben, die hier hereinkamen, und bisher waren alle Proben von TeLindes Patientinnen abgestorben.
Zu jener Zeit standen einer erfolgreichen Zucht von Zellen noch viele Hindernisse im Weg. Zunächst einmal wusste niemand genau, welche Nährstoffe sie zum Überleben brauchen oder wie man sie am besten versorgt. Viele Wissenschaftler, auch die Geys, bemühten sich schon seit Jahren um die Entwicklung des optimalen Kulturmediums – einer Nährlösung,
mit der man die Zellen füttert. Die Geys entwickelten ihr Rezept für das Kulturmedium ständig weiter. Immer wieder fügten George und Margaret irgendwelche Zutaten hinzu, ließen andere weg und suchten nach der idealen Zusammensetzung. Doch die Rezepte hörten sich immer arg nach einem Hexengebräu an: Blutplasma von Hühnern, pürierte Kalbsfeten, spezielle Salze, Blut aus menschlichen Nabelschnüren. George hatte eine Klingelleitung quer über einen Innenhof zur Entbindungsstation der Universität verlegt, so dass die Krankenschwestern jedes Mal klingeln konnten, wenn ein Kind geboren wurde. Dann lief Margaret oder Mary hinüber und holte das Nabelschnurblut.
Die anderen Zutaten waren nicht so leicht zu beschaffen: Mindestens einmal in der Woche besuchte George die örtlichen Schlachthöfe, um die Kalbsfeten und das Hühnerblut zu besorgen. Er fuhr mit seinem verrosteten alten Chevrolet, dessen linker Kotflügel herunterhing und auf dem Straßenpflaster Funken schlug. Noch vor dem Morgengrauen kam er zu einem baufälligen Holzhaus mit Sägemehl auf dem Fußboden und großen Löchern in den Wänden. Dort packte er ein kreischendes Huhn an den Beinen, hob es kopfüber aus dem Käfig und legte es rücklings auf einen Hackblock. Mit einer Hand hielt er die Füße fest, den Hals fixierte er mit dem Ellenbogen auf dem Holzklotz. Mit der freien Hand rieb er die Brust des Huhns mit Alkohol ab, dann stieß er ihm eine Kanüle ins Herz und saugte Blut ab. Anschließend stellte er den Vogel wieder auf die Füße, sagte »tut mir leid, alter Junge« und setzte ihn in den Käfig zurück. Hin und wieder fiel eines der Hühner dem Stress zum Opfer. Dann nahm George es mit nach Hause, damit Margaret es zum Abendessen braten konnte.
Wie viele ihrer Labormethoden war auch das Gey’sche Verfahren zur Gewinnung von Hühnerblut ursprünglich Margarets Erfindung. Sie arbeitete die Prozedur Schritt für Schritt aus,
brachte sie George bei und schrieb detaillierte Anweisungen für die vielen anderen Wissenschaftler, die sie lernen wollten. Die
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