Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
kannst.«
16
»Für die Ewigkeit an der gleichen Stelle«
A ls ich während meines ersten Besuches mit Henriettas Vetter Cootie zusammensaß und Fruchtsaft trank, sagte er, dass nie jemand ein Wort über Henrietta verlor. Nicht als sie krank war, nicht nach ihrem Tod und auch jetzt nicht. »Wörter wie Krebs nehmen wir nicht in den Mund«, erklärte er, »und wir erzählen auch keine Geschichten über tote Leute.« Mittlerweile habe die Familie schon so lange nicht mehr über Henrietta gesprochen, dass es fast sei, als habe es sie nie gegeben – nur wären da eben ihre Kinder und diese Zellen. »Klingt vielleicht komisch«, sagte er, »aber ihre Zellen sind langlebiger als die Erinnerung an sie.«
Wenn ich etwas über Henrietta erfahren wolle, so Cootie, müsse ich die Straße ein Stück weitergehen und mit ihrem Vetter Cliff sprechen. Der sei mit ihr zusammen aufgewachsen, beinahe wie ein Bruder.
Als ich in Cliffs Einfahrt einbog, hielt er mich für eine Zeugin Jehovas oder eine Versicherungsvertreterin: Die wenigen Weißen, die ihn besuchten, waren in der Regel eins von beidem. Trotzdem lächelte er, winkte mir zu und sagte: »Hallo, wie geht’s?«
Cliff war über 70 und betrieb den Tabakschuppen hinter dem Farmhaus, den sein Vater Jahrzehnte zuvor errichtet hatte. Mehrmals täglich prüfte er, ob die Trockenöfen mehr als 49 Grad heiß waren. Die neonblauen und weißen Wände in Cliffs Haus waren mit dunklem Öl und Schmutz verschmiert. Die Treppe zum ersten Stock hatte er mit Pappe und Decken abgedichtet, damit die warme Luft nicht nach oben und durch die fehlenden
Fenster entwich; Löcher in Decke, Wänden und Fenstern hatte er mit Zeitungen und Isolierband geflickt. Er schlief im Erdgeschoss auf einem klapprigen Doppelbett gegenüber von Kühlschrank und Holzfeuerherd. Daneben hatte er auf einem Klapptisch so viele Pillen gehortet, dass er schon nicht mehr wusste, wofür sie eigentlich gut waren. Vielleicht für den Prostatakrebs, meinte er. Vielleicht aber auch für den Blutdruck. Die meiste Zeit saß Cliff auf seiner Terrasse in einem karierten Lehnsessel, der so abgenutzt war, dass er fast nur noch aus freiliegendem Schaumgummi und Sprungfedern bestand. Von dort aus winkte er jedem vorüberfahrenden Auto zu. Obwohl seine gebeugte Haltung ihn mehrere Zentimeter gekostet hatte, war er ungefähr 1,80 Meter groß; die hellbraune Haut war trocken und verwittert wie Krokodilleder, die Augen in der Mitte meergrün und an den Rändern blau. Seine Hände waren nach Jahrzehnten auf Werften und Tabakfeldern rau wie Sackleinen, die Fingernägel gelb, rissig und bis zu den Nagelhäutchen abgeschabt. Während Cliff sprach, blickte er zu Boden und flocht seine arthritischen Finger ineinander, als wollte er die Hände falten und um Glück beten. Dann entwirrte er sie wieder und fing von vorne an.
Als er hörte, dass ich ein Buch über Henrietta schreiben wollte, stand er von seinem Sessel auf, zog sich eine Jacke an und ging zu meinem Auto. Dabei rief er mir zu: »Los, kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie beerdigt ist!«
Nachdem wir die Lacks Town Road einen knappen Kilometer weitergefahren waren, ließ Cliff mich vor einem Haus aus Beton und Pressspanplatten halten, das innen eine Fläche von höchstens zehn Quadratmetern haben konnte. Er stieß ein Tor aus Balken und Stacheldraht auf, das auf eine Wiese führte; mit einer Bewegung bedeutete er mir hindurchzugehen. Am hinteren Ende der Wiese, zwischen den Bäumen verborgen, stand eine Holzhütte aus der Sklavenzeit. Sie war mit Brettern verkleidet,
zwischen denen große Lücken den Blick ins Innere freigaben. Die Fenster hatten keine Glasscheiben und waren mit dünnen Brettern sowie mit verrosteten Colaschildern aus den Fünfzigerjahren verschlossen. Das Haus stand schief: Seine Ecken ruhten auf unterschiedlich großen Steinhaufen, die es seit mehr als 200 Jahren in einer gewissen Höhe hielten. Die Unterseite war so weit vom Erdboden entfernt, dass ein kleines Kind darunterkriechen konnte.
»Das hier ist das alte Home-House. Hier ist Henrietta aufgewachsen!«, rief Cliff und zeigte auf die Hütte. Wir gingen über den roten Boden darauf zu. Unter unseren Füßen raschelte trockenes Laub, die Luft roch nach wilden Rosen, Kiefern und Kühen.
»Henrietta hat es hübsch gemacht – ein richtiges Home-House. Heute erkenne ich es kaum wieder.«
Der Fußboden im Inneren war mit Stroh und Mist bedeckt; an mehreren Stellen war er unter dem Gewicht von Kühen, die
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