Die Untoten von Veridon: Roman (German Edition)
Schuss das Ziel verfehlte, ich nachzuladen versuchte und der Keiler angriff. Mit ruhiger Stimme erklärte er mir Schritt für Schritt, was ich tun musste, während meine zittrigen Hände Schießpulver über die Mündung und den Lauf verschütteten. Die Patrone fiel mir aus den Fingern, und als ich im Laub danach suchte, schoss er an meiner Stelle. Trotzdem hörte ich keinerlei Enttäuschung in seiner Stimme. Er meinte nur, ich sollte das Nachladen üben oder besser noch das nächste Mal mit dem ersten Schuss treffen.
Den Kontrast dazu bildete der verschrumpelte Versager, der in seiner leeren Bibliothek saß und mich dafür schalt, dass ich aus der Akademie geworfen worden war. Der mich aus seinem Haus verstieß. Dieser Mann, der nicht mal mit mir reden konnte, ohne zu fluchen. Bei dem jedes Wort von Versagen zeugte, dem meinem und dem seinen. Unser beider Geschichten waren völlig ineinander verflochten. Nichts, was ich tun konnte, war gut genug, und nichts, was er tat, konnte daran etwas ändern.
Der Vater, den ich kannte.
Der mir nicht in die Augen sehen, der mit seinen Freunden nicht über mich reden wollte. Der nie ihre Fragen darüber beantwortete, wo ich mich aufhielt, was aus mir geworden war. Der auf der Straße an mir vorbeiging, ohne mich eines Blickes zu würdigen.
Und der Vater, an den ich mich erinnerte.
Der mich gelenkt, mich bestärkt, mich aufgehoben hatte, wenn ich fiel. Der stets aufmerksam beobachtet hatte, wie ich fiel, um mir erklären zu können, weshalb, bevor er mich zur nächsten Herausforderung antrieb.
Die Quelle der Kraft in meiner Kindheit – und die Quelle der Enttäuschung, als ich ein Mann wurde.
Nun waren sie beide ein und derselbe Mann. Alles, was ich hatte, war die Erinnerung an einen Vater, den ich nie richtig kennenlernen würde.
Zitternd stand ich über der Leiche meines Vaters. Der Revolver befand sich nicht mehr in meiner Hand. Ob ich ihn fallen gelassen oder weggeworfen hatte, wusste ich nicht. Wilson stellte sich neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Jacob«, sagte er mit mitleidiger Stimme. »Wir werden uns den Weg nach draußen freikämpfen müssen.«
»Kannst du mir nicht mal eine Minute Zeit zum Trauern lassen?«
»Nicht, wenn wir dadurch ums Leben kommen, nein.« Er zupfte am Kragen meiner Jacke. »Jetzt reiß dich zusammen. Komm. Du hast den Kerl nicht mal gemocht. Und die Götter wissen, dass er dich auch nicht gemocht hat.«
›Reiß dich zusammen‹ sagte er deshalb, weil ich mittlerweile auf die Knie gesunken war. Weil mir Tränen in den Augen standen und ich unbewaffnet war, während sich hinter meinem Rücken ein Raum voll schlurfender Ungetüme befand. Weil die Stadt auseinanderzufallen drohte und das irgendwie mein Problem war. Einfach zusammenreißen.
»Er war trotzdem mein Vater«, sagte ich und blinzelte Tränen weg. »Er war trotzdem mein Vater.«
»Dann unternimm etwas.« Inzwischen hatte sich Wilson von mir abgewandt. »Denn sonst wirst du schon bald nicht mehr in der Lage sein, irgendwas zu unternehmen.«
Ich stand auf und ergriff die Flinte, die Cranich fallen gelassen hatte. Die mein Vater fallen gelassen hatte. Es handelte sich um eine Regetta, Modell Nummer 5 mit manuellem Vorratsmagazin. Dem Gewicht und der Ausgewogenheit nach zu urteilen, war das Magazin mit allen zehn Patronen gefüllt. Wie Soldaten reihten sie sich unter dem Lauf aneinander. Ich drehte mich um und löste die Sicherung.
»Alles klar«, sagte ich. »Bin bereit.«
Die schaurige Versammlung stand nur da und sah uns an. Die Gestalten wankten leicht, als hätten sie schon zu lange gestanden und würden allmählich müde. Tote wurden nicht müde. Wilson befand sich neben mir und hielt seine Messer lose an der Hüfte.
»Was meinst du? Haben wir seine Kontrolle über sie gestört? Oder warten sie nur darauf, dass wir etwas tun?«, fragte Wilson.
»Keine Ahnung. Sollen wir einfach losballern, um zu sehen, was das bringt?«
»Klingt gut.« Er befreite seine Schultern und entfaltete die langen, mit scharfen Klauen bewehrten Arme seiner Spinnenpersönlichkeit. »Nach dir, Jungchen.«
»Lassen wir den Patriarchen einfach hier?«
»Willst du ihn etwa raustragen?«, gab Wilson zurück.
»Schätze nicht. Also schön«, sagte ich und versuchte, mich zu wappnen. Mein Verstand war klar und wach. So klar hatte ich seit Tagen nicht mehr gesehen. Ich hob die Flinte an und nahm den nächstbesten Mechagentoten ins Visier. Zehn Patronen. Es waren mehr als zehn
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